Die Anarchie muss warten

Katholisches Forum Niedersachsen diskutierte über die „Krise der repräsentativen Demokratie“

Hildesheim/Celle (bph) Wutbürger, die auf die Straße gehen; Internet-Aktivisten, die per Computermaus politischen Druck ausüben. Was haben gewählte Volksvertreter eigentlich noch zu sagen? Steht die repräsentative Demokratie vor dem Aus? Über dieses Thema diskutierte auf Einladung des Katholischen Forum Niedersachsen am Dienstagnachmittag, 19. Juni, im Kunstmuseum Celle Prof. Dr. Ulrich Haltern mit Prof. Dr. Joseph Vogl. Dr. Daniel Deckers von der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ moderierte dieses „VI. Juristenforum Celle“, das zu der beruhigenden Einsicht kam: Die Anarchie muss noch warten!

War Politik früher nicht einfacher? Parlamentarier entschieden, Empörung machte sich höchstens in Leserbriefen Luft. Ganz anders sieht das Prof. Dr. Ulrich Haltern, der den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europarecht und Rechtsphilosophie an der Leibniz Universität Hannover innehat. Die repräsentative Demokratie sei immer umstritten gewesen, so der Experte bei seinem Referat in Celle. Daher sei diese Form der politischen Mitgestaltung auch heute nicht in der Krise – oder immer in der Krise gewesen, je nach Sicht der Dinge. Kritisch sieht der Rechtswissenschaftler unter anderem den politischen Stil der „Piraten“: Da sie in erster Linie die digitalen Eliten anziehen, verstärken sie nach Ansicht Halterns die Ungleichheit an der politischen Teilhabe.

Vor den rund 120 geladenen Gästen, zumeist Juristen, wartete der Rechtswissenschaftler mit einer interessanten These auf: Sei früher Gott als absoluter Gesetzgeber und damit Souverän anerkannt gewesen, so ging diese Macht im Laufe der Geschichte auf den Monarchen über, in der Demokratie dann auf das Volk. Inzwischen sieht Haltern jedoch einen deutlichen Hang zur Individualisierung: Jeder ist sich sein eigener Gesetzgeber, „aus der Volkssouveränität wird die Individualsouveränität“, was der Professor doch mit einer gewissen Sorge sieht.

Nicht minder zugespitzt die Erkenntnis von Halterns Gesprächspartner Prof. Dr. Joseph Vogl vom Lehrstuhl für Literatur- und Kulturwissenschaften und Medien an der Humboldt-Universität zu Berlin. Abgesehen davon, dass dieser ohnehin die Macht längst bei den Finanzmärkten sieht, glaubt er auch, in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise Zeichen eines Staatsstreiches ausgemacht zu haben, verlagern sich die wirtschaftlichen und damit politischen Entscheidungen doch immer weiter weg vom Parlament hin zu transnationalen Netzwerken und europäischen Instanzen. Also verfällt die repräsentative Demokratie letztlich doch? Keineswegs, wie beide Professoren in der Diskussion mit FAZ-Ressortleiter Deckers beruhigten. Nötig ist nach Ansicht Halterns aber ein „kultivierter ideologischer Diskurs“ über die Möglichkeiten, aber auch Grenzen dieser Form von Demokratie und eine gewisse Gelassenheit, denn auch wenn die Stellvertretung eine große Errungenschaft sei, so muss man in einer repräsentativen Demokratie die Krise nach Ansicht Vogls doch als Normalfall ansehen.

Das Katholische Forum Niedersachsen wurde 2002 durch die Bischöfe von Hildesheim und Osnabrück sowie den Bischöflichen Offizial in Vechta gegründet. Es will in den Bereichen der Gesellschafts- und Sozialpolitik sowie Bildungspolitik katholische Positionen diskutieren und wendet sich dabei in seinen Veranstaltungen an Entscheidungsträger und Fachleute.