Eine himmlische Dreiecksbeziehung

Der „Albani-Psalter“ erzählt von der Liebe eines Abtes zu einer Einsiedlerin

Hildesheim (bph) Der Albani-Psalter ist eine der bedeutendsten mittelalterlichen Handschriften mit Zeichnungen und Miniaturen. Er entstand im 12. Jahrhundert in England als Zeugnis einer großen platonischen Liebe zwischen dem Abt Geoffrey von St. Albans und der Einsiedlerin Christina von Markyate. Forscher haben in der Handschrift die versteckten Hinweise auf diese Zuneigung enträtselt. Ab 12. September können die Besucher die Beweise dieser zarten Beziehung im Dom-Museum besichtigen.

Aus der Zelle der Einsiedlerin Christina im fernen England drangen Geräusche, die nüchterne Gemüter alarmiert haben müssen: Seufzer, Schluchzen, Stimmen, die sich leidenschaftlich ereiferten und dann für lange Zeit verstummten. Draußen war das Pferd von Geoffrey von Gorham, dem ehrwürdigen Abt von St. Albans, angebunden. Und was geschah da drinnen im Gemach der Einsiedlerin? Zweifler und Verleumder hatten schnell eine Antwort bei der Hand: Der Abt müsse ein Verführer und die Einsiedlerin eine Hure sein. Doch wer die beiden besser kannte, der wusste, dass ihre Liebe von Anfang an eine Dreiecksbeziehung war. „Sie war so erfüllt mit dem heiligen Geist, dass sie nicht wusste wie und gar nicht fleischlich lieben wollte“, heißt es in der Lebensbeschreibung der Einsiedlerin und Gründerin des Priorats Markyate.

Christina hatte einmal eine Vision von ihren beiden Liebsten, dem irdischen und dem himmlischen: Sie hielt Geoffrey in den Armen und fürchtete sich davor, dass er sich aus ihrer Umklammerung befreien würde. Doch Jesus kam ihr zu Hilfe und legte seine Hand auf ihre. Christina, heißt es weiter, war überglücklich über die Gegenwart ihres „Gemahls und Herren“ – womit natürlich nicht Geoffrey, sondern Jesus gemeint ist.

Aus diesem komplizierten Beziehungsgeflecht einer platonischen, geradezu spirituellen Liebe ging eines der herausragendsten Beispiele der englischen Romanik hervor: Der Albani-Psalter, der heute in der Hildesheimer Dombibliothek aufbewahrt und erforscht wird. Lange haben die Experten darüber gestritten, doch inzwischen scheint sicher, dass Geoffrey die kostbare Handschrift um 1135 anfertigen ließ, um sie Christina zu schenken. Wahrscheinlich, vermutet die Expertin Jane Geddes, wurde das Buch als Prunkstück für die Klosterbibliothek von St. Albans begonnen. Doch während die Abschrift der Psalmen und die Buchmalereien schon in Arbeit waren, änderte Geoffrey seine Absicht. Zahlreiche in Bildern und Text versteckte Hinweise führen direkt zu Christina und werfen ein Licht auf seine Beziehung zu ihr.

Der Zwangsheirat entkommen

Männer haben in Christinas Leben immer eine wichtige Rolle gespielt. Der Mönch Sueno aus ihrer Heimatstadt Huntingdon in East Anglia hält schon dem jungem Mädchen Brandreden über die „Schwierigkeiten und den Ruhm der Jungfräulichkeit“. Alleine für sich legt sie Keuschheitsgelübde ab. Doch der Bischof Ranulf von Flambard droht ihre Pläne zu durchkreuzen: Nachdem sie sich seinen Zudringlichkeiten widersetzt und ihn vor ihrer Familie blamiert hat, setzt er alles daran, ihr Leben zu zerstören. Er fädelt eine Zwangsheirat mit dem jungen Adligen Burhred ein. Beschwörend hält Christina ihrem ungeliebten Angetrauten das Beispiel der heiligen Cäcilia vor Augen, die eine asexuelle Ehe führte. Der verdatterte Burhred versteht gar nichts. Mit Quälereien und Schikanen wollen ihre Eltern Christina zwingen, die Ehe endlich zu vollziehen. Nach einer dramatischen Flucht findet sie bei einer Einsiedlerin Asyl.

Mit dem Eremiten Roger erlebt Christina die erste ihrer spirituellen Romanzen. Er hatte sich lange geweigert, die Ausreißerin zu empfangen. Doch als sie in seiner Kapelle im Gebet auf dem Boden liegt, begegnen sich ihre Augen. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Roger versteckt sie in einem Verschlag neben seiner Zelle vor seinen Mitbrüdern. Nur er kann den schweren Holzklotz vor ihrer Höhle entfernen. Tagsüber leidet sie Höllenqualen, kann ihren Durst nicht löschen und ihre Notdurft nicht verrichten. Nachts holt Roger sie heraus, unterrichtet sie, diskutiert und betet mit ihr – „unter Tränen himmlischer Sehnsucht“, wie es in ihrer Lebensbeschreibung heißt.

Nach Rogers Tod findet sie einen anderen Gefährten, mit dem sie ihre leidenschaftliche Spiritualität teilt. Doch dieser Mann ist jünger. Zum ersten Mal erwacht in Christina ein sexuelles Interesse. Sehr offen muss sie ihrem Biografen die Versuchungen geschildert haben, unter denen sie litt. Christina flüchtete vor den Zudringlichkeiten des Mönchs und erfüllte endlich Rogers Wunsch, seine Nachfolgerin zu werden und ein geistliches Leben zu führen. Ihr Ruf zog viele Anhängerinnen an. Aus Rogers Zelle im Wald entstand das Priorat Markyate. Christina jedoch sorgte sich, dass Gott sie während all der teuflischen Versuchungen verlassen habe. In Ekstase hörte sie eine Botschaft, die ihr den inneren Frieden wiedergab: „Der Schüssel zu deinem Herzen ist in meiner Hand. Ich bewache das Schloss vor deinem Geist und Körper und niemand kann eindringen, es sei denn ich erlaube es.“

Diese Episode ist wie ein Vorzeichen für ihre Freundschaft zu Geoffrey. Bei ihrer ersten Begegnung wird bereits deutlich, wer in dieser Beziehung die Hosen anhat. Geoffrey muss zu dem Treffen buchstäblich geprügelt werden. In einer Vision erhält Christina den Auftrag, den Abt von einem eigenmächtigen Plan abzubringen, der sowohl seine Mitbrüder als auch Gott ernsthaft verärgert hätte. Christina überwindet ihre Scheu vor dem mächtigen Mann und schickt ihm ihre Botschaft. „Ein dummer Traum“, fertigt er ihren Boten barsch ab. Doch in der Nacht bekommt er die Folgen seiner Arroganz zu spüren: Ein Heer finsterer Spukgestalten fällt über ihn her. Mag es auch nur ein böser Traum gewesen sein – die Schmerzen fühlen sich real genug an. Durchgeprügelt und halb erstickt lässt er seinen Plan fallen und eilt zu Christina. Er gelobt Besserung, verspricht, sich künftig ihren Befehlen zu beugen und für die materiellen Bedürfnisse ihre Gemeinschaft zu sorgen.

Christina wird seine Mentorin. Sie betet für das Heil seiner Seele und wacht unerbittlich über seinen Lebenswandel: In ihren Visionen sieht sie seine Verfehlungen ebenso wie die Zeichen göttlicher Auserwählung. Dabei wächst er ihr immer mehr ans Herz. Geoffrey hingegen wandelt sich vom prunkliebenden Kunstmäzen zum fürsorglichen Förderer der Einsiedlerinnen und Eremiten. Dass er seine Freundin mit einem himmlischen Nebenbuhler teilt, wird ihm manchmal schmerzlich bewusst: Dann fällt sie mitten im Gespräch in Ekstase und hört nicht mehr, was er sagt.

Sind die Frauenfiguren heimliche Porträts?

Eine der verschwenderisch geschmückten Initialien im Albani-Psalter, ausgerechnet der Buchstabe C, sagt eine Menge über das Verhältnis von Christina und Geoffrey. Die Initiale zeigt Christus vor dem Sternenhimmel. Eine verschleierte Frau nähert sich ihm mit bittend ausgesteckten Händen. Hinter ihr drängt sich eine Gruppe von Mönchen, deren Vorderster sie sanft, aber nachdrücklich nach vorne schiebt. Über der Szene stehen ihre Worte: „Ich flehe dich an, errette deine Mönche.“ Christina setzt sich bei Christus für das Seelenheil Geoffreys und seiner Mitbrüder ein. Die Forscherin Jane Geddes ist überzeugt, dass diese Initiale zu Psalm 105 den Punkt markiert, an dem Geoffrey entschied, Christina den Psalter zu schenken. Von da an tauchen viele weibliche, mit Sympathie gezeichnete Gestalten in den Initialen auf.

Häufig entdeckt man auch Tauben in dem großartigen Werk. Das Symboltier des Heiligen Geistes hatte eine besondere Beziehung zu Christina und Geoffrey. In einer Vision sah sie sich in einem Raum mit dem dreifaltigen Gott: zwei weiß gekleideten Männern und einer Taube. Geoffrey versuchte verzweifelt, zu ihnen zu gelangen. Christina flehte so lange, bis die Taube zu ihm flog und „er von der Taube oder die Taube von ihm Besitz ergriffen hatte.“ Mehrere Illustrationen lassen sich mit Hilfe dieser Vision erklären. Einmal musste der Künstler offenbar sein Bild korrigieren, damit es besser zu Christinas Schilderung passte: Deutlich ist sichtbar, dass der Vogel erst über Gott Vater und Sohn schwebte. Dann wurde er ausradiert und ruht nun auf den Gestalten - wie es in der Vision beschrieben ist.

Geoffrey mag gute Gründe gehabt haben, das Buch nicht offiziell Christina zu widmen, sondern die persönlichen Bezüge in Anspielungen zu verrätseln. Seine Mitbrüder waren nicht begeistert von seiner Freigiebigkeit für Markyate. Nicht wenige zweifelten an der Schicklichkeit der Beziehung. Christina in ihrer hochemotionalen Frömmigkeit würde man zutrauen, dass sie ein solches Buch mit sich herumtrug, zerlas, mit Tränen durchweichte. Doch der Erhaltungszustand ist ausgezeichnet. Blieb ihre Haltung zu dem großen Geschenk zwiespältig? Vor allem für Geoffrey, folgert Jane Geddes, war es ein Bedürfnis, von seinem spirituellen Weg mit Christina Zeugnis abzulegen. Das prunkvolle Werk ist zugleich ein Gebet für seine Seele.

Von: Annedore Beelte

 

Ausstellung „Gottesfurcht & Leidenschaft“

Der mittelalterliche Albani-Psalter mit seinen Miniaturen und Initialen ist vom 12. September 2009 bis 24. Januar 2010 im Dom-Museum Hildesheim zu sehen. Die Austellung unter dem Titel „Gottesfurcht & Leidenschaft“ zeigt erstmals in der Geschichte alle Seiten des Psalters gleichzeitig, da die Handschrift aus konservatorischen Gründen in ihre Einzelseiten zerlegt wurde. Nach der Ausstellung wird das Buch wieder gebunden. In einem eigenen Ausstellungsteil erfahren die Besucher, wie Handschriften im Mittelalter angefertigt wurden. Zu sehen ist das unschätzbare Werk dienstags bis sonntags von 10 bis 17 Uhr. Der Eintritt kostet 6 (4) Euro. Weitere Informationen auf der Homepage „albani-psalter.de“