Heidesand und Jakobsmuscheln

Das Bistum zwischen Harz und Heide war immer auch ein Land der Pilger

Hildesheim (bph) Sie waren unterwegs ins Heilige Land, nach Rom oder Santiago. Und sie sind es auch heute: Pilger auf dem Weg zu einem Wallfahrtsort – oder auf dem Wege zu sich selbst. Manche brechen hier auf, andere durchkreuzen das Bistum Hildesheim in Richtung Süden. Doch nicht immer müssen die Wege lang sein. Heute suchen und finden viele Wallfahrer ihre Ziele in der Nähe.

Pilgern begeistert – nicht erst seit Hape Kerkeling. Es war im Jahr 1470, als sich ein gewisser Kunze Schadewolf auf dem Nikolausberg bei Göttingen die Kleider vom Leib riss. Nicht nur seine gesamte Barschaft, sondern auch alles, was er am Leib trug, opferte er zu Ehren des Heiligen Nikolaus. Das nüchterne Erwachen kam wohl erst, nachdem der Pilger in seine Heimatstadt Kassel zurückgekehrt war. Jedenfalls bewahrt das Hildesheimer Bistumsarchiv bis heute einen Brief auf, in dem der Rat der Stadt Kassel sich energisch bemühte, Kleider und Bargeld vom Bistum – zu dem der Göttinger Nikolausberg gehörte – zurück zu bekommen. Über die Hintergründe dieser merkwürdigen mittelalterlichen Rechtsauffassung kann man nur spekulieren. Vielleicht betrachteten die Kasseler Ratsherren die Habseligkeiten ihrer pilgernden Mitbürger als städtisches Eigentum.

Pilger sind auf der Suche nach greifbaren Erfahrungen mit Gott: Sie streben zu Orten, wo andere Menschen solche Erfahrungen gemacht haben – oder wo das Heilige in Form von Reliquien berührbar erscheint. Auch aus dem Bistum Hildesheim sind schon immer Christen ins Heilige Land, nach Rom und zum Grab des Apostels Jakobus nach Santiago de Compostela gepilgert. Archäologen förderten im Hafen von Stade und in der Weser bei Bremen jede Menge Jakobsmuscheln von der nordspanischen Küste und andere Pilgerzeichen zu Tage. Ein beliebtes Ziel war auch Rom, die Ewige Stadt. 1236 zum Beispiel brach der Benediktinerabt Albert von Stade in Richtung Italien auf. Er wollte vom Papst die Erlaubnis erbitten, seine lax gewordenen Mitbrüder der strengeren Regel der Zisterzienser unterwerfen zu dürfen. Nach seiner Rückkehr beschrieb er in seiner Chronik „Annales Stadenses“ den Weg nach Rom über Bremen und die Rückreise über Braunschweig und Celle. Einen anderen Weg in die Stadt der Päpste nahm der Isländer Haukr Erlendsson, wie er in seinem „Hauksbók“ beschreibt. Auch er reiste durch Braunschweig, umging aber lieber den Harz in westlicher Richtung. Die schwedische Nationalheilige Birgitta hat alle drei großen Pilgerziele – das Heilige Land, Santiago und Rom – besucht. Ihr vermuteter Weg von Stralsund nach Lüneburg wird heute als „Birgittaweg“ vermarktet.

„Via Scandinavica“ nennt man den Abschnitt des Jakobsweges, auf dem die Pilger aus den Ländern der Mitternachtssonne durch Norddeutschland reisten. Doch „den“ Pilgerweg gab es nicht, die Vorlieben der Wallfahrer waren verschieden. Viele scheuten den Weg durch die Lüneburger Heide, wo der Wind die Spuren verwehte und Fuhrwerke sich nur mühsam durch den Sand quälten, und machten lieber den Umweg über Braunschweig. Im Leinetal galt es die Entscheidung zu treffen zwischen dem bequemen Handelsweg, der allerdings die Räuber anlockte, oder dem ruhigen, aber beschwerlichen Höhenweg.

Im Lauf des Mittelalters zeichnete sich ein neuer Trend ab: Die Menschen zog es nicht mehr nur zu den großen Pilgerzielen des Abendlandes, sondern immer häufiger zu den kleineren Heiligtümern in ihrer Umgebung. Im Bistum Hildesheim pilgerte man nach Bergen und Wienhausen, nach Wolterdingen, Mandelsloh, Föhrste, Wrisbergholzen, Jeinsen und auf den Spiegelberg bei Lauenstein. Diesem frommen Treiben versuchten die Landesherren nach der Reformation einen Riegel vorzuschieben. Doch die Pilger ließen sich kaum aufhalten: Sie beteten auf dem Spiegelberg und anderen Wallfahrtsorten einfach vor der verschlossenen Kirche und warfen ihre Opfergaben durch die Fenster. 1773 wurde in einer Nacht-und-Nebel-Aktion das Gnadenbild vom Spiegelberg nach Hannover abtransportiert. Noch nicht einmal der Fuhrmann durfte wissen, welche Fracht er da geladen hatte.

In der Barockzeit blühte die Pilgerbewegung wieder auf. Im Bistum kamen neue Wallfahrtsorte hinzu, die bis heute zahllose Pilger anziehen: Germershausen im Eichsfeld und Ottbergen im Landkreis Hildesheim. Das Wort „Sinn“, wissen Sprachwissenschaftler, geht auf das alte Wort für „gehen“ oder „reisen“ zurück. Pilgern stiftet Sinn – das wusste man in Bistum Hildesheim schon immer.