Wilmer wirbt für eine Erneuerung der Kirche

Hildesheimer Bischof veröffentlicht Essay in der aktuellen Ausgabe der Herder Korrespondenz

Angesichts der Skandale um sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch plädiert Bischof Dr. Heiner Wilmer SCJ für einen geistigen Neuaufbruch in der katholischen Kirche in Deutschland. Dafür ist aus seiner Sicht notwendig, dass die deutsche Theologie sich internationalen Einflüssen stärker öffnet. Insbesondere von der französischen Theologie sei viel zu lernen für die Verkündigung und Bezeugung des Evangeliums in der heutigen Zeit.

Wilmer äußert sich in der aktuellen Ausgabe der Herder Korrespondenz (September 2019). Sein Essay trägt den Titel „Mehr Existenzielles wagen“ und verweist damit auch auf die Theologie unseres Nachbarlandes, insbesondere auf den Philosophen Maurice Blondel. Dieser betone in seinem Werk das inkarnatorische Prinzip: „Gott wird ein Mensch aus Fleisch und Blut. Er hat gelitten und geschrien. Er hat geschwitzt und gerochen. Er war anfassbar.“

Blondels Frage, wie der Mensch in seine Haut komme, wie er zu seiner Identität und Bestimmung finde, sei uralt und gleichzeitig hochmodern, schreibt Wilmer, der in dem 1949 verstorbenen Franzosen einen Wegbereiter einer Theologie der Begegnung des Menschen mit Gott sieht. Für Blondel sei die eigentliche Erkenntnis, dass das Herz und die Intuition das Leben eines Menschen tragen, deutlich mehr als die Vernunft. „Die großen Entscheidungen des Menschen werden auf dieser Ebene gefällt, nicht auf der Ebene der mathematisch-naturwissenschaftlichen Berechnungen.“

Dem von der deutschen Theologie vernachlässigten Aspekt des Scheiterns trägt der französische Philosoph nach Auffassung des Bischofs in hohem Maße Rechnung. Für Blondel sei Scheitern die Kluft zwischen der erwünschten Idealvorstellung und dem, was ein Mensch im Leben tatsächlich erreiche. Diese Lücke könne allein durch das Transzendente geschlossen werden. Der Mensch harre einer Bestimmung entgegen, an deren Ende Gott stehe.

Daraus folge, so Wilmer, die Frage nach der Bedeutung Gottes im Leben eines Menschen und was aus dem Gottesglauben für die Einstellung und das konkrete Handeln eines Menschen folgt: „Wenn es Gott gibt und ich an ihn glaube – was bedeutet das für mein Leben? Was stellt der Glaube an Gott in meinem Leben um?“

Diese Frage weise auf die Missionstätigkeit. Auch hier könne die deutsche Kirche, der ein überzeugendes Konzept zur Evangelisierung fehle, von der französischen lernen, ist der Bischof überzeugt. Im Nachbarland spreche man davon, den Glauben vorzuschlagen und den Glauben zu teilen, einen moderneren Missionsbegriff gebe es nicht: „Ich kann den Glauben nicht weitergeben, ohne mich selbst zu geben. In Deutschland denken wir, man könne den Glauben weitergeben wie ein Glas Wasser: Hier, trink mal. Da gebe ich nicht mich selbst, sondern bleibe in der Distanz.“

Wilmer wendet sich gegen eine Weitergabe des Glaubens, die klinisch bleibe und die Kirchen zu Museen verkommen lasse. Er kritisiert, dass die Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch zwar auf vielen Ebenen richtig angegangen werde, das Missbrauchsthema aber existenziell-theologisch umschifft werde. „(…) solange wir die Theologie ausklammern, wenn es um Missbrauch geht, kommen wir nicht an die Wurzeln.“

Der Bischof geht in dem Text auf seine bekannte Äußerung ein, der Missbrauch von Macht stecke in der kirchlichen DNA, und erläutert, wie der Satz zu verstehen sei: Die Kirche ist heilig von Gott her, aber von den Menschen her sündig. Deshalb bedürfe sie der steten Reinigung im Sinne einer steten Umkehr. „Wir müssen lernen, dass unser Glaube uns Verzweiflung und Niedertracht, Ausweglosigkeit und Starrheit nicht erspart.“

Volltext des Essays