Kirche auf der Bank
Ein Projekt im Dekanat Unterelbe
Hast du Lust darauf, deinen eigenen Herzschlägen zuzuhören?
Hier. Auf dieser Bank. Ne, ich verkaufe keine Versicherung. So,eine Minute in der Stille. Im Nachhinein brauchen wir gar nicht darüber zu reden, sondern bist du frei, aufzustehen und deinen Weg zu gehen.
Eine Bank weit weg im Norden. Jedes Mal eine andere Bank. Himmelpforten, Brest-Aspe, Neu Wulmstorf, Hittfeld, Hollern-Twielenfleth. So zwei oder drei Stunden. Der Versuch kostet nichts. Und kann dagegen einen nahrhaften Proviant bieten.
Als ich vor zwei Jahren mit dem Projekt "Begleitung der Menschen in ihren Lebenssituationen" in der Süderelbe beauftragt wurde, schien es mir, es sei wichtig, weit in den Sozialraum zu gehen. Aber nicht etwa wie eine Partnerin mit der Stadtgemeinde bei dem einem oder anderen Sozialprojekt oder Gelegenheit. Mir war es wichtig, die Menschen zu erreichen, die bei solchen Aktionen nie erreicht werden, die irgendwo jenseits der Kirche(n) leben, sich vielleicht auch nicht engagieren, und die trotzdem, durch ihre eigene Person, ein wichtiger Puls des Soziallebens sind. Nach einem erleuchtenden Gespräch mit einem tibetanischen Mönch in der Bahn ("Wir kennen keine Stille mehr. Wir sind nicht mehr dazu fähig, unseren Herzschlägen in Ruhe zuzuhören."), habe ich mit diesem Experiment angefangen.
Jesus kam den trauernden Jüngern aus Emmaus hinzu und ging mit ihnen. Nö, so was würde heute ein bisschen komisch aussehen, das kann ich nicht machen. Was ich hingegen tun kann, ist mich zu setzen, gerade in der Mitte des Lärmes, und warten, ob eine*r sich zu mir hinsetzen möchte. Dabei habe ich keine kirchlichen Symbole, es steht nirgendwo "Katholische Kirche" oder "Gott". Viele gehen vorbei, manche bleiben ein paar Augenblicke stehen. Wenigere fragen, irritiert oder neugierig, was ich eigentlich tue. Meine Antwort ist immer gleich: "Ich biete Ihnen eine Atempause an. Dafür möchte ich kein Geld haben oder versuchen, Sie zu konvertieren. Wollen Sie es ausprobieren?" Und dann gehen manche das Risiko ein.
Es ist nicht möglich zu sagen, welche Menschen sich dafür entscheiden, eigenen Herzschlägen mutig zuzuhören. Ich bin verschiedensten Gegenübern begegnet: Alte und Junge, Klatschende und diejenigen mit den Kopfhörern, Kirchengänger*innen, Ausgetretene und Nichtgläubige, Bettler*innen und Gymnasiallehrer*innen, Besoffene und Suizidgefährdete, einmal sogar einem Fischer mit frisch gefangenen Fischen.
Nach der Atempause bekommt jede*r von mir ein Lächeln. Meistens bekomme ich auch ein Lächeln und die Menschen gehen weg. Manche aber fangen daraufhin an, zu reden. Ich habe verschiedene Lebensgeschichten gehört. Einige waren echt grausam, voll von Verletzungen, Enttäuschungen, Verlusten, Verabschiedungen, Bitterkeit, Wut. Das sind ihre Jerusalem-Ereignisse, die sie mir verzweifelnd erzählen.
Du wolltest mich fragen, was tue ich dann? In der Emmaus Geschichte hat sich Jesus vor den Jüngern erkennen lassen und ihre Augen gingen auf. Ich bin kein Jesus. Von daher kann ich auch nur zuhören und Ohnmacht erfahren, so heftige Ohnmacht, die man in einem Kirchenraum, oder woanders, wo Gebäude und Institutionen undurchlässigen Schutz bieten, fast nie erleben kann.
Bei einem sehr eindrücklichen Gespräch war ich echt in Versuchung, meinen Dienst zu offenbaren. Aber genau in dem Moment wollte sich die alte Frau verabschieden und dazu sagte: "Wissen Sie, so eine herzensnahe Begegnung habe ich seit langem nicht gehabt. Am Anfang habe ich gedacht, Sie arbeiten für eine der Kirchen. Gott sei Dank sind Sie ein freier Mensch. Ich könnte nie mit einem Kirchenmitarbeitenden so frei reden, da ich von der Kirche viele Wunden trage."
Jede Bank ist ein Segensort, weil Begegnungsort, Ort der Atempause des Herzens. Die Geschichten bleiben begraben, tief im Schlamm und Matsch, weit weg im windigen Norden. Und durch das Moor zeigt sich plötzlich der Pfad nach Emmaus.
Flora Becker, Pastoralreferentin im Dekanat Unterelbe