Bischof Norbert Trelle zu Ehe und Familie

Bischof Norbert Trelle

Bischof Norbert Trelle

Liebe Schwestern und Brüder,

ich möchte ihnen heute einige Gedanken über die Liebe vorlegen; Gedanken darüber, wie diese Liebe konkret wird, wenn Ehepaare und Familien miteinander leben. Mir ist dabei bewusst, dass es in unserer Zeit viele zerbrochene Lebensentwürfe und gescheiterte Beziehungen zwischen Menschen gibt - auch in unseren Gemeinden. Und doch gibt es diesen inneren Kern der Liebe, an dem viele Menschen festhalten und nach dem sie sich sehnen.

Tiefe Einsichten über die Liebe lassen sich aus dem Bilderwerk der großen Bronzetür im Hildesheimer Dom herauslesen. Bischof Bernward hat sie der Welt vor tausend Jahren geschenkt. Für mich ist die Tür wie ein gegossener "Hirtenbrief".

Einen Ausschnitt dieses Kunstwerkes möchte ich zusammen mit ihnen betrachten. Vor sich sehen Sie das zweite Bild des linken Türflügels. Es zeigt, wie Gott Frau und Mann zueinander führt. Adam und Eva gehen aufeinander zu, im nächsten Moment werden sie sich berühren, alles läuft auf eine Umarmung hinaus. Wenn wir genauer hinschauen, entdecken wir: Gott legt Eva die Fingerspitzen an die Schulter. Er schiebt Eva nicht. Er weist höchstens die Richtung, damit die beiden sich nicht verfehlen. So wie Adam und Eva einander zugewandt sind und wie sie sich ansehen, bewegen sie sich mit großer Offenheit aufeinander zu. Eva macht kleinere Schritte als Adam. Gott stärkt ihr den Rücken, gibt sich selbst in diese Bewegung mit hinein und unterstützt sie dabei in ihrem Vorwärtsschreiten. Der Blick Gottes ist auf Adam gerichtet. Auch er ist in Gottes Fürsorge einbezogen. Adam und Eva sind gleich groß, sie stehen sich hier völlig gleichwertig gegenüber. Beide haben große Ähnlichkeit mit ihrem Schöpfer. Mit diesem Stilmittel weist der Künstler auf die Gottebenbildlichkeit von Frau und Mann hin.

In diesem kleinen Ausschnitt aus der Bernwardstür kann ich viele christliche Überzeugungen entdecken. Drei, die mir besonders wichtig erscheinen, greife ich heraus:

Die Bildszene "Adam und Eva" aus der mittelalterlichen Bernwardtür im Hildesheimer Dom.

Gott führt Adam und Eva zusammen.

Wenn Menschen in einer Liebesbeziehung zueinander finden, haben sie nicht selten das Gefühl, dass sie füreinander bestimmt sind - viele auch, dass Gott sie geführt hat. Menschen machen immer wieder die Erfahrung, dass sie gerade dadurch selber beschenkt werden, wenn sie lieben können und geliebt werden. Einen anderen Menschen und sich selbst mit seinen Eigenheiten, Vorlieben und Unzulänglichkeiten ganz annehmen zu können, gehört zu den großen Herausforderungen unseres Lebens. Dabei vertrauen nicht wenige darauf, dass Gott ihnen - wie auf der Bernwardtür zu sehen - den Rücken stärkt.

Christinnen und Christen, die einander die Ehe versprechen, tun dies in der festen Zuversicht, dass Gott ihre Ehe mit seinem Segen begleitet, sie weiterhin im Blick hat, ihnen die Treue hält. Aus dieser Haltung heraus sprach der Priester zu Zeiten Bischof Bernwards in der Trauzeremonie: "Gott gebe euch zusammen." Heute legt der Priester die Stola um die Hände von Braut und Bräutigam.

Wenn die katholische Kirche den sakramentalen Charakter der Ehe betont, will sie genau auf diesen Zusammenhang hinweisen: Die Liebe, die sich Mann und Frau gegenseitig schenken können, macht die Liebe Gottes zu uns sichtbar. An dieser gelingenden menschlichen Liebe und Treue lässt sich ablesen, so deutet es der Brief des Apostels Paulus an die Epheser, wie Christus jeden einzelnen Menschen und die Kirche insgesamt liebt (vgl. Eph 5,32). Er bleibt den Menschen und der Kirche treu - auch in schwierigen Situationen, in Zeiten von Umbrüchen und vielfachen Herausforderungen. Die Ehe ist so Zeichen des Heils. Wir nennen sie Sakrament, weil durch sie die unendliche Liebe Gottes erfahrbar wird, die alles menschliche Lieben erfüllt und übersteigt.

Adam und Eva gehen aufeinander zu. 

Schon in der  Erzählung von Adam und  Eva wird angedeutet, dass niemand nur für sich leben kann und soll. Seit jeher machen wir Menschen die  Erfahrung, nur in Gemeinschaft leben zu können.  wir brauchen einander. Ich möchte deshalb  ihre Aufmerksamkeit noch einmal auf die Bernwardstür lenken: Adam und  Eva schauen sich  an,  sie  haben  einander  im  Blick. Dies  könnte  man  so  weiterführen:  Sie  sorgen  sich  umeinander.  Und  in  ihrer  Sorge  füreinander  zeigen  sie,  wie  sehr  sich  Gott  um  die  Menschen sorgt. So nimmt die Gottebenbildlichkeit des Menschen konkrete Gestalt  an. Wir können und sollen einander zeigen, dass Gott für uns sorgt, uns den Rücken stärkt, seine Hand an unsere Schulter legt, damit wir unseren Weg gehen können.  Dies gilt zunächst für den ganz normalen Alltag, den Paare und Familien miteinander organisieren – etwa bei der Frage, wie sich die konkreten Anforderungen im gemeinsamen Leben, in Beruf und Schule verbinden lassen und wie alltägliche Schwierigkeiten gemeistert werden können.

Die Bibel spricht davon, dass sich Adam und  Eva Hilfe  sind, die einander entspricht (vgl. Gen 2,18), und stellt im Buch Kohelet nüchtern  fest: „Zwei sind besser als einer allein [...]. Denn wenn sie hinfallen, richtet einer  den anderen auf.“ (Koh 4,9f.) 

Der Auftrag, füreinander in Gottes  Namen zu sorgen, beschränkt sich aber nicht  auf den eigenen Partner.  Er gilt erst recht in besonderen Lebenssituationen. In  unseren Gemeinden und in unserem persönlichen Umfeld begegnen wir Menschen,  die am Beginn einer Partnerschaft stehen oder die einen lieben Menschen verloren haben.  Eltern sind unter uns, die sich über die Geburt eines Kindes freuen, und  Menschen,  die  schwer  erkrankt  sind.  Zu  uns  gehören  Menschen,  die  am  Beginn  eines neuen Lebensabschnitts stehen, und Männer und Frauen, deren  Ehe zerbrochen ist. Ihnen allen steht Gott zur Seite. Mit der Gottebenbildlichkeit ernst zu  machen, heißt, dass auch wir diesen Menschen nahe sind.  W enn wir einander begegnen, soll unser Gesicht den liebenden Blick Gottes widerspiegeln. Und nicht  selten sehen wir im Gesicht unseres  nächsten, dass uns Gott anblickt.

Die Bildszene "Adam und Eva" aus der mittelalterlichen Bernwardtür im Hildesheimer Dom.

Adam und Eva bleiben nicht allein.

Noch einmal möchte ich mit ihnen auf das Bild der Bernwardstür schauen. Neben Adam und Eva sind Früchte zu sehen, die an den Bäumen in Gottes Garten wachsen. Sie erinnern daran, dass Gott den Menschen den Auftrag gegeben hat: „Seid fruchtbar!“ (Gen 1,28) tatsächlich gehört es zum Wesen der Liebe, dass sie wachsen will und dem Geliebten Gutes wünscht. Auf diese Weise kann das Leben der anderen reicher werden. Das Kostbarste, das aus der Verbindung von Mann und Frau hervorgehen kann, ist neues Leben – leibhaftig: ein Kind wird geboren oder angenommen, eine Familie entsteht und wächst.

Auch wenn vielfältige Erfahrungen einen anderen Schluss nahelegen, bestätigen alle neueren Untersuchungen, dass der Wunsch, in Partnerschaft und Familie zu leben, ungebrochen ist: Die meisten Menschen wünschen sich, zusammen mit einer Partnerin beziehungsweise mit einem Partner in einer Familie zu leben. Der Grund liegt wohl auch darin, dass in der Familie das „im-Blick-Behalten“ – wie auf der Bernwardstür – besonders intensiv geschehen kann. Wenn im Alltag auch manche Uneinigkeiten auftreten, bleibt das Leben von einer grundlegenden gegenseitigen Wertschätzung getragen. Ein Erfolg  braucht  nicht  mit  Leistungsentschädigung  vergolten  zu  werden,  sondern  ruft geteilte Freude hervor. Auf ein Versagen muss nicht mit Schuldzuweisung reagiert werden, sondern es kann mit geteilter Trauer getragen werden. Tief in uns lebt eine Sehnsucht nach einem solchen Lebensraum, wo wir spüren und erfahren dürfen: Es ist gut, dass  es  uns  füreinander  gibt. Einen  solchen  Lebensraum  bieten  die  meisten  unserer Familien. Deshalb gilt es, Familie zu schützen und uns für deren Schutz einzusetzen.

Dies ist umso wichtiger, als das Leben in einer Familie heute starken Belastungen ausgesetzt ist. Viele Paare stellen sich die Frage, ob sie sich aus finanziellen, beruflichen oder anderen Gründen zutrauen können, Kinder zu bekommen. Eltern sorgen sich um die Entwicklung ihrer Kinder, da an junge Menschen immer höhere Erwartungen gestellt werden. Besonders Familien sind die Leidtragenden der Wirtschaftskrise. Dabei ist der Druck für Mütter und Väter, die Kinder allein erziehen, noch höher. Es ist ein Skandal, dass gerade die Kinderarmut enorm ansteigt.

In dieser Situation erweisen sich viele Kindertagesstätten und Schulen, Sportvereine, Bildungshäuser, Verbände, Pfarrgemeinden und Beratungsstellen als Orte, an denen Kinder, Jugendliche und Erwachsene wortwörtlich in den Blick genommen werden. Für Eltern werden sie nicht selten zu Orten des Gesehenwerdens, der Unterstützung und des Austauschs, weil ideelle, manchmal auch materielle Hilfe unbürokratisch geleistet wird.

Mir ist noch eine weitere Dimension familiären Lebens wichtig. Gerade das Engagement  von  Müttern  und  Vätern,  die  ihre  Kinder  allein  erziehen,  ist  oft  vorbildlich. Auch eine große Zahl von Männern und Frauen, besonders der älteren Generation, sorgt regelmäßig für Kinder – sei es als Großeltern oder in der Nachbarschaft,  sei  es  in  der  Pfarrgemeinde  oder  in  entsprechenden Einrichtungen. Die Bereitschaft, füreinander Verantwortung zu übernehmen und einander beizustehen,  ist  Motivation  für  die  nachwachsenden  Generationen. Ehepaare,  die lange miteinander verheiratet sind und eine gute Ehe führen, können für uns alle Vorbild sein. Kinder und Jugendliche lernen von ihren Bezugspersonen, wie Leben gelingen kann, dass man sich aufeinander verlassen darf. Sie lesen in unseren Gesichtern, sie brauchen unseren liebenden Blick.

So  möchte  ich  an  dieser  Stelle  ausdrücklich  den  vielen  Menschen  danken,  die gerade die Kinder und Jugendlichen im Blick behalten: den Eltern, den Großeltern,  aber  auch  den Erziehern  wie  den  Lehrkräften,  denen,  die  Kinder-  und  Jugendgruppen leiten, und den Frauen und Männern, die in der Seelsorge und den Beratungsstellen tätig sind. Sie sagen jeden Tag „Ja“ zu den kleinen, zu den jungen Menschen. ich wünsche ihnen von Herzen, dass sie in ihrem Tun, in ihrer Sorge die Erfahrung machen, dass sie sich beschenkt wissen – und im Blick der Kinder sehen, dass Gott auch sie im Blick hat.

Am Ende meines Hirtenwortes soll ein Segenswunsch stehen. Ich widme ihn den Ehepaaren, den Familien, den Liebenden:

Gott segne eure Liebe,
die sicheren und die suchenden Schritte,
die einsamen und die begleiteten,
die großen und die kleinen.

Gott segne eure Liebe,
damit ihr aufeinander zugehen und euch verstehen könnt,
einander Freiheit lassen und euch glücklich machen könnt.

Gott segne eure Liebe,
damit ihr Kraft habt, wenn es schwer ist.

Gott ist die Liebe. Die Liebe hört niemals auf.

Hildesheim, am Aschermittwoch, dem 17. Februar 2010

Dieser Text wurde erstmals als Hirtenwort zur österlichen Bußzeit 2010 veröffentlicht.