Dank- und Abschiedsbrief

Pater Dr. Heiner Wilmer schreibt zum Pfingstfest an seine Mitbrüder und die Dehonianische Familie

Pater Dr. Heiner Wilmer wendet sich mit einem Brief an seine Mitbrüder und die Dehonianische Familie. Darin drückt er seinen Dank für die fast vierzig Jahren im Orden der Herz-Jesu-Priester aus. Daneben benennt er darin aber auch einiges, was er mit nach Hildesheim nimmt. 

Der Brief im Wortlaut: 

Liebe Mitbrüder,
liebe Dehonianische Familie,

wie ihr wisst, hat mich Papst Franziskus zum Bischof der Diözese Hildesheim ernannt. Diese Berufung hat mich vollkommen überrascht, sie bedeutet einen großen Einschnitt für mich, aber auch für Euch, die Gemeinschaft der Herz-Jesu-Priester. Nun heißt es, mit großem Gottvertrauen Abschied zu nehmen. Die Tage des Aufbruchs sind mit so vielen Gedanken gefüllt, die gleichermaßen in die Vergangenheit und in die Zukunft gerichtet sind! Was konnten wir seitens der Generalleitung in diesen drei Jahren anstoßen? Was darf ich mit nach Deutschland in das Bistum Hildesheim nehmen?

Zeit der Aussaat

Als wir, die neue Generalleitung im Herbst 2015, nach unserer Wahl auf dem Generalkapitel, einen programmatischen Brief an Euch schrieben, stellten wir Euch im Vorwort Abraham als denjenigen vor, der uns bei unserem Aufbruch begleiten sollte. In ihm sahen wir das Bild für die Dynamik, die uns inspirierte. Heute lese ich diese Aufforderung Gottes noch einmal in einem anderen Licht. Darum will ich den Brief hier noch einmal zitieren:

„Zieh weg aus deinem Land, wenn du kannst! “– Nein, das hat Gott nicht zu Abraham gesagt. Er hat nicht gesagt: „Wenn du kannst!“ Er war klar, direkt und unmissverständlich: „Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde.“ (Gen 12,1) Zögere nicht. – Es sollte um den Plan Gottes gehen, nicht um seinen eigenen. Es sollte um ein neues Leben gehen, ein neues Glück, um ein gesegnetes Leben, eben in Fülle – für ihn und für andere. Abraham ist der Gläubige, der sich von Gott formen lässt, der den Mut zum Aufbruch hat und der zum Segen werden soll für die Menschen (Gen 12,2), die so zahlreich sind wie die Sterne am Himmel und der Sand am Meer.“ (Gen 15,5)

Wir haben Euch damals drei Schwerpunkte vorgelegt, die uns bei diesem Aufbruch den Weg zeigen sollten: Erstens die Formation, also Bildung und Ausbildung, zweitens die Neuevangelisierung und Verkündigung und drittens das Leben mit den Armen.

Es würde den Rahmen sprengen, alle Punkte aufzulisten, denen wir als Generalleitung nachgegangen sind. Erlaubt mir daher, zum Abschied noch einmal jene Punkte zu benennen, die mir persönlich in der gemeinsamen Arbeit der Generalleitung wichtig waren. Es liegt in der Natur der Sache, dass deren Umsetzung noch nicht abgeschlossen ist. Natürlich sehe auch ich gern Erfolge und schaue gern auf Erreichtes zurück. Aber es ging nicht um schnelle Ergebnisse, sondern darum, Prozesse anzustoßen. Es ging darum, in einer komplexen Welt Entwicklungen zu ermöglichen, deren Ergebnisse außerhalb meiner Amtszeit, ja vielleicht sogar außerhalb meines Lebens liegen würden. Kurzum: Es war eine Zeit der Aussaat, nicht der Ernte.

Formation

Für unseren Ordensgründer Pater Leo Dehon waren Bildung und Erziehung, die Hinwendung zu jungen Menschen, von zentraler Bedeutung. Er begriff sie weniger als ein caritatives, sondern als politisches Engagement. Sinngemäß sagte er: Wenn ich eine Misere nicht punktuell, sondern an der Wurzel beseitigen will, ist es das beste Mittel, die Menschen selbst in die Lage zu versetzen, sich daraus zu befreien.

Entsprechend müssen wir uns als Dehonianer selbst bilden und aufstellen. Darum brachten wir, im Austausch mit den Oberen und den Ausbildern, das Programm des „apostolischen Jahres“ auf den Weg. Es ist auch in unserem programmatischen Brief enthalten. Jeder Mitbruder soll, soweit es ihm möglich ist, für ein Jahr in einem fremden Land, in einer fremden Sprache, in einer fremden Kultur leben und dort in einem sozialen Projekt mitwirken. Wir sind überzeugt: Ich kann nicht über Fremde reden, wenn ich nicht selbst Fremdheit erfahren habe. So wie es Pater Dehon sinngemäß gesagt hat: Wenn du jemanden lieben willst, musst du ihn kennen. Wenn du jemanden kennen willst, musst du ihn aufsuchen. Er meinte damit, dass wir die körperliche Seite der Idee ernst nehmen müssen. Um zu lieben, müssen wir uns in den anderen hineinversetzen. Ganz in dieser Spur hat es auch unser Heiliger Vater, Papst Franziskus formuliert: „Die Wirklichkeit steht über der Idee.“ (EG 233)

Am 14. März 2018, dem Geburtsfest unseres Ordensgründers, begann in unserer Ordensgemeinschaft das „Jahr des verwundeten Herzens“. Wir waren überzeugt, dass die verwundete Seite Jesu die Ikone des 21. Jahrhunderts ist. Sie ist das Bild für die Zerbrechlichkeiten und Verletzungen unserer Zeit. Das geöffnete Herz Jesu schließt alle physischen und psychischen Verwundungen ein, auch unsere eigenen. Sie ernst zu nehmen heißt, sie offen zu legen, um sie behandeln zu können, heißt sie anzunehmen und ein positives Verhältnis zu ihnen zu finden – menschlich, verständnisvoll, einfühlend. So kamen wir zu der Überzeugung, dass die Hinwendung zu den gebrochenen Menschen erst dann authentisch wird, wenn ich selber meine eigene Gebrechlichkeit, mein verwundetes Herz sehe und annehme. 

Neuevangelisierung/Verkündigung

Von Beginn an inspirierte uns das Wort Jesu Christi: „Geht hinaus in die ganze Welt und verkündet das Evangelium der ganzen Schöpfung“ (Mk 16, 15). Pater Dehon hat uns aufgefordert: „Geht raus aus der Sakristei!“ Das heißt für unser Charisma: Hinaus aus den Komfortzonen, hin zu den Menschen, denen wir die Verkündigung der Frohen Botschaft schuldig sind! Mich hat immer das Wort des früheren Erfurter Bischofs Joachim Wanke bewegt: „Dass eine Kirche nicht wächst, mag auszuhalten sein. Dass sie aber nicht wachsen will, ist schier unerträglich.“ (Zeit der Aussaat, 2000)

Als Generalrat haben wir darum entschieden, neue Gründungen auszuloten und die Möglichkeit zu studieren, uns auf den Weg zu neuen Orten zu machen. Dazu zählen die Länder Nigeria, Kenia, Kolumbien, Mexiko, Hongkong, aber wir wollen auch neue Schritte in Europa wagen. Wie der Völkerapostel Paulus seine Missionstätigkeit bevorzugt auf die großen Städte ausrichtete, Korinth, Kolossä, Thessaloniki, Athen und schließlich Rom, so wollen auch wir den Städten ein besonderes Augenmerk widmen, und dort speziell zum Beispiel den Universitäten, also den jungen Menschen. Wir möchten sie begleiten und stärken, wenn sie sich darauf vorbereiten, Verantwortung zu übernehmen. In dieser ersten Phase des Erforschens neuer Gründungen haben wir noch nicht die machbaren Orte identifiziert. Es liegt an der neuen Generalleitung, nach dieser Phase der Suche und Erforschung Entscheidungen zu treffen.

In diesen Zusammenhang gehörte auch das Bestreben unserer ehemaligen Generalleitung, der Berufungspastoral neue Aufmerksamkeit zuzuwenden. Mission nach außen und nach innen, das ist der Schlüssel. Die Evangelisation beginnt bei uns selbst. Eine uralte Redensart sagt: Ex abundantia cordis os loquitur – Wovon das Herz voll ist, davon fließt der Mund über. Wenn wir dem Verkündigungsauftrag Christi gerecht werden wollen, muss uns selbst das Herz überlaufen. All das fassten wir in unserem mission statement zusammen: „Open heart and mind!“

Daraus folgt wiederum, dass wir der Kommunikation größere Aufmerksamkeit widmen müssen, der Art unseres Sprechens, dem Dialog mit anderen Religionen, insbesondere dem Islam. Kommunikation ist ja nicht nur ein Mittel der Interaktion, sondern stellt einen Wert in sich dar. Gott selbst ist ganz und gar Kommunikation. „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott. “(Joh 1,1)

Hinwendung zu den Armen

Papst Franziskus hat das Wort von der Kirche als „Feldlazarett“ geprägt. „Habt keine Angst, euch schmutzig zu machen “, ruft er uns zu. Genau in diesem Sinne hat auch Pater Dehon uns aufgefordert, dorthin zu gehen, wo die Not ist. So widmeten wir die Jahre unserer Generalleitung jeweils einem der sieben Werke der Barmherzigkeit. 2016: Fremde beherbergen; 2017: Hungrige speisen, Durstigen zu trinken geben; 2018: Gefangene besuchen. Wir bemühten uns, finanzielle Spielräume zu öffnen und Freiwillige in unser Tun einzubeziehen.

Ich kann nicht mit einer inneren Distanz zu den Armen gehen, sondern nur, wenn ich bereit bin mit ihnen zu leben, wenn ich meine eigene Armut sehe und annehme. Dahin zu kommen hilft mir, den anderen auf Augenhöhe wahrzunehmen. Die Armen sind nicht in erster Linie Objekt unserer Hilfe und Zuwendung, sondern sie sind unsere Lehrmeister. Sie lehren uns, mehr Mensch zu werden.

Wir verstanden die weltweiten Migrationsströme als „Zeichen der Zeit“ (GS 4). Was für Pater Dehon und die Gründung unserer Ordensgemeinschaft die Industrialisierung bedeutete, waren für uns die gigantischen Flucht- und Wanderbewegungen der Gegenwart. Das Anliegen unserer Generalleitung war, dass dies in all unser Denken und Tun einfließt 

Was nehme ich mit?

Von meinem Vorgänger als Generaloberer, Pater José Ornelas Carvalho, habe ich ein kleines Messingschild geerbt, auf dem in Englisch das Wort des schon alt gewordenen Michelangelo Buonarroti steht: „I’m still learning.“ Lernen ist ein Wesenselement meines Lebens, als Schüler, als Lehrer, als Priester, zuletzt als Oberer. Und ich bin sicher, so wird es auch im Bischofsamt bleiben. Drei Dimension will ich hervorheben:

  • Gott steht im Zentrum. Von Gott her will ich zu den Menschen gehen! Ich möchte nicht bei der Frage stehen bleiben, ob Gott existiert. An mir selbst habe ich die existenzielle Wendung dieser Frage erfahren: Wenn es Gott gibt und ich an ihn glaube, verändert es mein ganzes Leben. Dann drängen sich Fragen nach vorn wie: Was in mir stellt der Glaube um? Wie lässt er mich anders denken, fühlen, handeln?
  • Der Mensch steht im Zentrum, nicht die Institutionen. Und dies, weil Gott selbst den Menschen ins Zentrum stellt, indem er Mensch wurde in Jesus Christus. Gott zeigt den Menschen seine absolute Empathie und gibt der Menschheit sein Herz. „Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht: Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen.“ (Phil 2,5-7).
  • Und schließlich: Unsere Rolle bei der Zuwendung Gottes zu den Menschen. Wie kann ich als Seelsorger den Mitmenschen begleiten auf seinem Weg durchs Leben? Ja, wie kann ich ihn so begleiten, dass er mir von Gott erzählt? Wie kann ich dem Mitmenschen Hilfe sein, dass er in Gott einen Halt findet, der unüberbietbar ist?

Ich nehme mit nach Hildesheim die zunehmend gereifte Erkenntnis, dass für die Verkündigung die Sprache entscheidend ist. Vom lebendigen Gott müssen wir lebendig sprechen. Das gelingt nicht mit statischen Substantiven und Definitionen, sondern mit aktiven Verben, sprechenden Bildern und Vergleichen, welche die Bewegungen des Lebens ausdrücken. So erlangen wir eine Ahnung von der Sinnlichkeit Gottes.

Jesus sagt uns: „Ihr seid das Salz der Erde. … ihr seid das Licht der Welt. “(Mt 5,13) Er stellt keine Bedingungen, (wenn ihr euch bessert, werdet ihr …) und formuliert keinen Wunsch (Ihr solltet das Salz der Erde sein…) Nein, er sagt: So wie ihr seid, seid ihr Licht und Salz. Indikativ steht vor Imperativ, Zuspruch vor Anspruch, Zusage vor Ansage! Und: présence vor représentation. Nähe kann heilen, sie ist durch nichts zu ersetzen. Gegenwart ist top!

Mitnehmen werde ich nicht zuletzt den Schatz der Kontemplation! Wir sind ein aktiver Orden, und ich werde weiterhin als Bischof aktiv bleiben, ja bleiben müssen. Aber: Es tut nicht nur einem selbst gut, sondern auch all den anderen und der kirchlichen Gemeinschaft, die große Tradition der kontemplativen Orden zu pflegen, der Stille Raum zu geben. Für uns Herz-Jesu-Priester ist die eucharistische Anbetung wesentlich, wenn wir vor dem immer Größeren still werden. Kontemplative Anbetung ist die einzige Medizin gegen die Anbetung des Ego. Dieses kleine Stückchen Brot der Eucharistie ist das Gegenmittel gegen die Anbetung des sich aufblähenden Ich. Wer sich aufbläht, hebt sich empor und verliert die Bodenhaftung. Er hebt ab. Mit anderen Worten: die eucharistische Kontemplation holt mich auf den Boden zurück. Anbetung erdet!

In meinem römischen Büro, das ich jetzt verlasse, blicke ich auf die Kopie eines Bildes von Caravaggio: die Begegnung zwischen Jesus und Thomas. Der kritische, zweifelnde Jünger legt dort seinen Finger in die offene Wunde des Auferstandenen, er hebt das Bauchfell so hoch, als wolle er einen Vorhang anheben, um in eine andere Realität zu schauen. Seit drei Jahren begleitet mich nun diese Kopie aus der Potsdamer Bildergalerie. Hat sich das Christentum nicht immer schon jener Welt zur Wehr gesetzt, in der die Realität der Idee untergeordnet wurde, die Körperlichkeit mit all ihrer Gebrechlichkeit dem Ideal? Auch wenn ich das Bild hängen lasse, es wird mich nach Hildesheim begleiten, so tief hat es sich mir eingeprägt.

Dank

Mir fehlen die Worte, um angemessen auszudrücken, wie dankbar ich für fast vierzig Jahre im Orden der Herz-Jesu-Priester bin, in der Dehonianischen Familie, die für mich eine Schule des Lebens wurde. Es bleibt die Schule, in die ich weiterhin gehen darf, auch wenn ich nun ins Bistum Hildesheim wechsle.

Dank den Mitbrüdern in der Generalleitung für die wunderbare Zusammenarbeit in den drei Jahren. Sie hat mich auch persönlich sehr bereichert.

Dank dem internationalen Kolleg in Rom für die große Gemeinschaft aus mehr als 60 Mitbrüdern aus 21 Ländern und 4 Kontinenten!

Dank allen Mitbrüdern weltweit für eine sehr brüderliche und kreative Zusammenarbeit, um das Charisma von Pater Dehon zu leben und weiterhin aufblühen zu lassen!

Dank der großen Dehonianischen Familie, den Freundeskreisen und Gruppen, die mit uns leben und das Charisma unseres Gründers teilen!

Dank den zahlreichen Mitarbeitern weltweit, mit denen wir Schulter an Schulter Projekte angehen und durchs Leben gehen!

Dank den ungezählten Freunden, Unterstützern, Wohltätern, die uns tragen und begleiten durch Knowhow, Gebet und finanzielle Unterstützung! 

Stellvertretend für alle will ich dem ganzen Generalrat einen besonderen Dank aussprechen, der mich in diesem Dienst der Unterscheidung und Leitung begleitet hat.

Es ist gut, in diesen Wochen zu erleben, wie vital unsere Ordensgemeinschaft ist, mit welcher Souveränität die Generalleitung das anstehende Generalkapitel vorbereitet, mit welchem Gottvertrauen und welcher Zuversicht die Mitbrüder nach vorn schauen. Und wie Ihr das „sint unum“ in großem Gemeinschaftsgeist lebt.

Ich bin vollkommen davon überzeugt, wir werden geführt.
Ich brauche die Schönheit des biblischen Wortes.
Ich glaube fest an die Macht des Gebetes.

So grüße ich Euch alle in Liebe, frei im Herzen und verbunden im Gebet.

Zum Pfingstfest
Rom, 20. Mai 2018

P. Heiner Wilmer SCJ