Der Opferschutz hat Vorrang

Das Bistum Hildesheim bemüht sich um einen offenen Umgang mit sexuellem Missbrauch

Domkapitular Werner Holst (68) ist als Leiter der Hauptabteilung Per-sonal/Seelsorge im Bischöflichen Generalvikariat Hildesheim zuständig für die Personalangelegenheiten der Priester des Bistums. Im Gespräch mit der Bischöflichen Pressestelle plädiert der Seelsorger für ein deutlicheres Vorgehen bei sexuellem Missbrauch durch Geistliche. Zugleich wendet er sich gegen eine pauschale Verdächtigung von Seelsorgern.

Pressestelle: Wie viele Fälle sexuellen Missbrauchs durch Priester im Bistum Hildesheim sind Ihnen bekannt?

Holst: Ich kann zurückblicken auf etwa 20 Jahre. Aus dieser Zeit sind mir etwa eine Handvoll Fälle bekannt geworden.

Pressestelle: Wie haben Sie bisher in solchen Fällen reagiert?

Holst: Das war ganz unterschiedlich. Ich kann mich noch sehr gut an den ersten Fall erinnern, der schon lange zurück liegt. Ich war damals sehr schockiert und habe sofort beim Bischof eine Amtsbeurlaubung dieses Priesters durchgesetzt. Außerdem wurden kirchliche Untersuchungen durchgeführt.

Pressestelle: Denken Sie aus heutiger Sicht, dass in allen Fällen immer genug getan wurde?

Holst: Es wurde sicher zu wenig getan. Damals hätten wir sofort die Staatsanwaltschaft hinzuziehen müssen. Das haben wir nicht getan. Außerdem hätten wir den Täter in eine Therapie schicken müssen. Auch das unterblieb leider. Wir haben uns zwar um die Opfer gekümmert. Aber auch ich dachte damals, wenn man die Täter in ein Kloster bringt, wo sie Buße tun, sei das genug. Das war falsch.

Pressestelle: Ist aufgrund dieser Fehleinschätzung ein Täter im Bistum je-mals wieder rückfällig geworden?

Holst: In einem einzigen Falle sexuellen Missbrauchs, der mir im Gedächtnis ist, ist ein Priester nach langer Abwesenheit vom Dienst rückfällig geworden. Die Konsequenzen waren für den betreffenden Priester dann sehr hart.

Pressestelle: Schätzungen sprechen von rund zwei bis fünf Prozent aller Priester, die in sexuellen Missbrauch verwickelt sein sollen. Können Sie diese Zahl nachvollziehen?

Holst: Für das Bistum Hildesheim kann ich diese Prozentzahl nicht bestäti-gen. Bei fünf bis sechs Fällen in 20 Jahren und einer Priesterzahl von rund 400 über die Jahre komme ich rein rechnerisch auf weniger als ein Prozent. Ich kann natürlich nicht ausschließen, dass es noch weitere Fälle sexuellen Missbrauchs gegeben hat, die wir nicht kennen. Wie hoch diese Dunkelzif-fer ist, kann ich aber beim besten Willen nicht sagen.

Pressestelle: Welche Strategie verfolgt das Bistum Hildesheim heute in Fällen sexuellen Missbrauchs durch Priester?

Holst: Der Schutz des Opfers hat für uns den absoluten Vorrang! Wenn ein Verdacht besteht, leiten wir sofort eine Untersuchung ein. Das setzt natürlich eine sorgfältige Recherche voraus, denn für den Angeschuldigten gilt zunächst die Unschuldsvermutung. Steht die Schuld fest, muss sofort gehandelt werden. Wir bestehen darauf, dass sich der Täter selbst anzeigt oder eine Anzeige durch Dritte erfolgt. Der betroffene Priester muss sich den strafrechtlichen Konsequenzen seines Verhaltens stellen. Das weitere Vorgehen ist dann individuell verschieden. Unter Umständen macht der Betroffene außerhalb des Bistums eine Therapie. Parallel dazu helfen wir den Opfern und natürlich auch deren Angehörigen. Außerdem muss die Gemeinde informiert werden. Wir möchten den Gemeindemitgliedern helfen, mit dieser Nachricht fertig zu werden. Wenn ein auffällig gewordener Geistlicher wieder in den priesterlichen Dienst zurück kehrt, darf er auf keinen Fall mehr Kontakt zu Kindern haben. Aber selbst dann muss er in therapeutischer Begleitung bleiben. Dadurch ist eine gewisse Überwachung gegeben. Vertuschen, Wegschieben und Verdrängen, das darf nicht sein.

Pressestelle: In der Presse war gelegentlich von einem "Hildesheimer Modell" zu lesen – einer Anlaufstelle für gefährdete Priester beziehungsweise Opfer. Was können Sie uns dazu sagen?

Holst: Bislang gibt es diese Anlaufstelle noch nicht. Aber wir denken, dass es sinnvoll ist, betroffenen Priestern, die durch eine Therapie quasi zum "trockenen Sexualmißhandler" – wenn Sie mir diesen Vergleich mit einem "trockenen" Alkoholkranken gestatten – geworden sind, neben der Therapie auch einen erfahrenen Priester zur Seite zu stellen, der gelernt hat, mit diesem Problem umzugehen. Daneben muss es kirchenunabhängige Anlaufstellen für Opfer geben. Wir stimmen uns dabei eng mit der Deutschen Bischofskonferenz ab und tragen deren Überlegungen mit.

Pressestelle: Wie konkret sind diese Pläne im Bistum Hildesheim?

Holst: Wir haben Kontakt zu Therapeuten und qualifizierten Laien aufgenommen, die solche Stellen mit aufbauen könnten. Näheres kann ich dazu aber im Moment nicht sagen.

Pressestelle: Bislang haben die deutschen Bistümer das Thema des sexuellen Missbrauchs durch ihre Priester jeweils bistumsintern geregelt. War das richtig?

Holst: Es ist sicher nötig, dass die deutschen Bistümer eine gemeinsame Strategie entwickeln. Nur in einem größeren Zusammenhang können wir die nötige Koordination und Transparenz erreichen, um das Problem des sexuellen Missbrauchs offensiv anzugehen.

Pressestelle: Was halten Sie von der Behauptung, wonach Pädophilie ein besonderes Problem katholischer Geistlicher sei?

Holst: Pädophilie und sexueller Missbrauch sind sicher ein gesellschaftliches Problem. Wir als Kirche dürfen aber nicht einfach auf andere zeigen. Wenn sexueller Missbrauch in unseren Reihen geschieht, ist das besonders schlimm, weil Geistliche Vertrauenspersonen sind. Uns muss bewusst sein, dass Missbrauch das Vertrauen zu Bezugspersonen, zur Kirche und letztlich auch zu Gott kaputt macht. Jeder einzelne Fall ist für uns eine Katastrophe, dessen Langzeitfolgen für die Entwicklung des Opfers unabsehbar sind. Als Kirche sollten wir im Gegenteil sogar Vorreiter sein, um angesichts der zunehmenden Sexualisierung unserer Gesellschaft ein Zeichen gegen den sexuellen Missbrauch zu setzen.

Pressestelle: Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dem Zölibat und sexuellem Missbrauch durch Priester?

Holst: Zunächst sehe ich diesen Zusammenhang nicht. Man kann beweisen, dass Missbrauchsfälle bei Zolibatären nicht häufiger vorkommen als bei Verheirateten. Ich will aber nicht leugnen, dass ein zolibatär lebender Geistlicher, der mit seiner Sexualität nicht zurecht kommt, gefährdet ist. Zumal deshalb, weil er besonders in Versuchung gerät, wenn Jugendliche sich mit ihren Sorgen und Nöten an ihn wenden, Zuwendung erwarten und Zärtlichkeit sogar dankbar annehmen. In den letzten Jahren achten wir in der Auswahl und Ausbildung von Priestern daher noch mehr darauf, dass es sich um reife Persönlichkeiten handelt.

Pressestelle: Wird die aktuelle Diskussion um den Missbrauch durch Priester Auswirkungen auf die Sexualmoral der katholischen Kirche haben?

Holst: Die katholische Sexualmoral geht von einem christlichen Menschenbild aus und ist völlig in Ordnung. Sie sagt ein positives "Ja" zum Menschen, auch zu seiner Sexualität. Sexualität ist eine von Gott geschenkte schöpferische Kraft. Aber wie alle Kräfte muss sie in die Persönlichkeit integriert werden. Insgesamt halte ich die Kirche nicht für leibfeindlich. Wenn sie das an manchen Stellen ist, entspricht das nicht der Lehre der Kirche. Auch ein Priester muss lernen, Sexualität in seine gesamte Persönlichkeitsstruktur zu integrieren. Das kann gelingen mit einer Spiritualität des Gebets und der Bereitschaft, auf Christus zu hören.