Mit Federkiel und Schlehentinte

Der „Albani-Psalter“ erzählt von der mühseligen Handarbeit in einer klösterlichen Schreibstube

Hildesheim (bph) Der mittelalterliche „Albani-Psalter“, um 1135 im englischen Kloster St. Albans entstanden, ist zu Recht berühmt für seine feinen Miniaturen und aufwändigen Initialbuchstaben. Das Werk zeigt Szenen aus dem Leben Jesu, zeugt aber auch von den harten Arbeitsbedingungen in einer mittelalterlichen Schreibwerkstatt, dem Skriptorium, wo unschätzbare Schriften in mühsamer Handarbeit entstanden. Ab 12. September ist der Albani-Psalter mit allen Einzelseiten im Dom-Museum zu sehen.

Sein Rücken ist gekrümmt, die Nase berührt fast das Pergament. Ohne den Arm aufzustützen, hält der Mönch mit spitzen Fingern den Federkiel. Seine Mitbrüder, die körperlich arbeiten, spotten manchmal über ihn, das Weichei, das sich vor der harten Arbeit in die Schreibstube geflüchtet hat. Ein Schreiberkollege hat vor vielen Jahrhunderten seinem Ärger über solche Ignoranz einmal Luft gemacht. Am Ende eines sorgfältig kopierten Rechtsbuches fügte er seinen eigenen Kommentar hinzu: „Der, der nicht weiß zu schreiben, glaubt nicht, dass dies eine Arbeit sei. O wie schwer ist das Schreiben: Es trübt die Augen, quetscht die Nieren und bringt zugleich allen Gliedern Qual. Drei Finger schreiben, der ganze Körper leidet.“ Wer Porträts von mittelalterlichen Schreibern in ihrer unbequemen Arbeitshaltung sieht, ist sofort geneigt, dem stöhnenden Kopisten zu glauben.

„Bete und arbeite“ verlangt die strenge Benediktinerregel – und wer zu körperlicher Knochenarbeit nicht taugte, landete oft in der Schreibstube, dem Skriptorium. Ihr Beruf, konterten die mittelalterlichen Schreiber, sei schließlich auch so etwas wie Pflügen: mit dem Griffel durch den Wachsüberzug der Täfelchen, auf denen Notizen und Entwürfe angefertigt wurden, bevor man sie auf das kostbare Pergament übertrug. Und für das Seelenheil war das Abschreiben allemal besser als den Klostergarten umzugraben, arbeitete man doch für die Erbauung der Seelen statt für das Wohlergehen des Körpers. Eine Buchillustration, die etwas später als der Albani-Psalter entstand, setzt dem Schreiber Swicher ein Denkmal. Sie nimmt schon einmal das Sterben dieses fleißigen und zu dem Zeitpunkt wahrscheinlich noch quicklebendigen Kopisten des Bandes vorweg. An seinem Totenbett stehen zwei Engel mit einer Waage. Der eine legt ein Buch in die Waagschale – und schon ist das Urteil gefallen: Der Teufel ergreift mit leeren Händen die Flucht. Swicher erhält seinen Lohn im Himmel.

Ganze Tierherden starben für Bücher

Am Anfang eines jeden Kodexes stand eine Herde von Schafen, Ziegen oder Kälbern. Die Haut eines Tieres reichte gerade mal für eine großformatige Doppelseite. 209 solcher Blätter enthält der Albani-Psalter. Die Tierhaut wurde nicht wie Leder gegerbt, sondern drei Tage lang in Kalklauge gebeizt, anschließend mit einem Messer glatt geschabt, auf einen Rahmen gespannt, wieder geschabt und mit Bimsstein geglättet. Auch beim Albani-Psalter kann man deutlich unterscheiden, auf welcher Seite des Blattes ursprünglich einmal die Haare und wo das Fleisch war: Die „Haarseiten“ sind rauer, die „Fleischseiten“ glatt und glänzend. Teilweise lassen sich hier noch die Spuren des Schabmessers erkennen. War das Pergament fertig zum Beschreiben, musste noch die Tinte hergestellt werden. In einer komplizierten Prozedur wurden im Frühjahr Schlehenzweige geschnitten, getrocknet und die abgeschälten Rinden im Wasser ausgelaugt. Schließlich kochten die Mönche die Brühe mit Wein ein und hängten sie in einem Pergamentsäckchen zum Trocknen auf. Vor dem Schreiben musste sie wieder in Wein aufgelöst werden. Das Ergebnis lohnte den Aufwand: Die bräunliche Tinte war lackartig, transparent, licht- und wasserbeständig.

Mit Hilfe von Ruß oder glühendem Eisen konnte man die Tinte nachschwärzen. Auch antike Rezepte für tiefes Schwarz waren weiterhin im Gebrauch, hatten aber ihre Tücken: Die Ruß-Gummi-Mischung nach dem antiken Rezept des Plinius reagiert empfindlich auf Feuchtigkeit. Eisen-Gallus-Mischungen, die Metalle und Gerbstoffe beispielsweise aus Galläpfeln enthalten, verblassen schnell und greifen das Pergament an.

Geschrieben wurde mit einer Gänsefeder. Linkshänder benutzten die rechten, Rechtshänder die linken Flugfedern. Viele Porträts zeigen Schreiberinnen und Schreiber, die beidhändig arbeiten: rechts halten sie die Feder, links ein Messerchen zum Nachschneiden der Federspitze und Niederdrücken des Pergamentes.

Bis ins 12. Jahrhundert wurden Bücher zum allergrößten Teil in Klöstern vervielfältigt. Sowohl Mönche als auch Nonnen kopierten und illustrierten die Handschriften. Ein Mönch, der „Armarius“, oder sein weibliches Pendant im Schwesternkloster, wachte über die Schreibstube und die Bibliothek und korrigierte die Abschriften. Kleine Fehler, die nur einzelne Buchstaben oder Wörter betrafen, wurden expunktiert: Ein Punkt unter einem Buchstaben machte ihn ungültig, das richtige Wort wurde darüber geschrieben. Größere Fehler korrigierten die Schreiber durch Rasur: Mit einem Messer schabte der Mönch das Pergament wieder ab, glättete und überschrieb es. Um den kostbaren Rohstoff Pergament zu sparen, wurden ganze Handschriften auf diese Weise gelöscht und neu beschrieben. So mancher Klassiker der Antike hat nur dadurch bis in die Gegenwart überlebt, dass man heute die ausradierte Schrift unter ultraviolettem Licht wieder lesbar machen kann.

Manche Schreiber konnten gar nicht lesen

Der Armarius erteilte den Schreibern ihre Aufträge. Die Mönche durften nur das kopieren, was ihnen befohlen wurde. Abschriften nach dem eigenen Literaturgeschmack anzufertigen, hätte gegen die Gelübde von Gehorsam und Besitzlosigkeit verstoßen. Ohnehin konnten manche Schreiberinnen und Schreiber selbst gar nicht lesen, was sie kopierten. Lesen und Schreiben waren zwei Fähigkeiten, die im Mittelalter nicht aneinander gebunden waren. Bei der Ausbildung in der Schreibstube war die Weitergabe der heiligen Schriften zunächst wichtiger als Alphabetisierung.

So mancher Auftraggeber musste Mahnungen über Mahnungen schicken, bevor er seinen bestellten Kodex endlich erhielt. Wahrscheinlich hält der Ire Columba den Geschwindigkeitsrekord des Mittelalters. Er schrieb das 248 Blätter umfassende Book of Durrow in nur zwölf Tagen. Timothy O`Neil, ein irischer Mönch, der die Schreibtradition in die Gegenwart hinüber rettete, berichtete einst, dass er 200 Wörter in der Stunde schaffe – und dann eine Pause brauche. Im Albani-Psalter haben Forscher die Handschriften von sechs verschiedenen Schreibern identifiziert, die sich auch in anderen Werken aus der Werkstatt von St. Albans finden lassen. Die Expertin Jane Geddes äußert sogar den Verdacht, dass der Auftraggeber, Abt Geoffrey, selbst Hand angelegt haben könnte. Ausgerechnet hinter dem unordentlichsten der Schreiber vermutet sie den Abt höchst selbst. Seine mutmaßliche Handschrift schwankt zwischen einer sauberen Schulschrift und einem spontanen Kritzeln, womit er gelegentlich persönliche Bemerkungen einschiebt.

Für die Illustrationen der Bücher scheinen viele Klöster ein frühes Outsourcing betrieben zu haben: Sie beauftragten wandernde Handwerker oder Laienbrüder. Die waren nicht an ein Kloster gebunden und konnten daher an verschiedene Skriptorien „ausgeliehen“ werden. Forscher verblüfft es immer wieder, dass lokaltypische Malstile in mehreren, weit entfernt liegenden Klöstern zugleich auftauchen. Ihre Farben gewannen die Künstlerinnen und Künstler aus Erden, Kreiden und Mineralien ebenso wie aus Tiersekreten und Pflanzensäften: Arsensulfid sorgte für ein sattes Gelb, Lapislazuli für das kostbare Blau. Kermesschildlaus und Purpurschnecke ließen ihre Leben für verschwenderische Rottöne. Extrakte von Lauch und Petersilie ergaben in Verbindung mit Grünspan eine Vielzahl von Grün-Schattierungen.

Doch nicht alle, die die wertvollen Handschriften schufen, waren gebeugte Schreiber. Als Querstrich unter der Initiale Q turnend, scheint sich eine gewisse Illustratorin Claricia in einem um 1200 in Süddeutschland entstandenen Psalter verewigt zu haben. Sie trägt ein derart figurbetontes Kleid mit modischen Fledermausärmeln, dass man vermuten kann: Claricia war keine Nonne, sondern das Skriptorium, wo das Buch entstand, nur eine Station auf ihrem Lebensweg. Wenn es wirklich die Künstlerin war, die sich hier selbst porträtiert hat, dann trug sie die Bürde ihrer Arbeit offenbar mit einem Augenzwinkern. Entspannter jedenfalls als ihre seufzenden Schreiber-Kollegen.

 

Ausstellung „Gottesfurcht & Leidenschaft“

Der mittelalterliche Albani-Psalter mit seinen Miniaturen und Initialen ist vom 12. September 2009 bis 24. Januar 2010 im Dom-Museum Hildesheim zu sehen. Die Austellung unter dem Titel „Gottesfurcht & Leidenschaft“ zeigt erstmals in der Geschichte alle Seiten des Psalters gleichzeitig, da die Handschrift aus konservatorischen Gründen in ihre Einzelseiten zerlegt wurde. In einem eigenen Ausstellungsteil erfahren die Besucher, wie Handschriften im Mittelalter angefertigt wurden. Zu sehen ist das unschätzbare Werk dienstags bis sonntags von 10 bis 17 Uhr. Der Eintritt kostet 6 (4) Euro.

Weitere Informationen auf der Homepage „www.albani-psalter.de