'Stille Nacht'

Weihnachtgruß des Hildesheimer Weihbischofs Dr. Nikolaus Schwerdtfeger

Die einen finden es sentimental und kitschig; die anderen sind davon berührt und ergriffen. In zahllosen Sprachen erklingt es auch an diesem Weihnachtsfest wieder - dieses Lied, das um die ganze Welt gegangen ist: "Stille Nacht, heilige Nacht". Wie kein anderes hat sich dieses einfache Lied in die Herzen der Menschen gesungen, seitdem es der junge Hilfsgeistliche Joseph Mohr verfasste und der Dorforganist Franz Xaver Gruber am Morgen des 24. Dezember 1818 dazu die Noten schrieb. Noch am selben Tag, in der Mitternachtsmesse, brachten beide es zusammen mit einem kleinen Chor zum Klingen. Seitdem ist die Faszination dieses Liedes ungebrochen. Und selbst wenn man es vielleicht einfältig findet, lohnt es sich nachzudenken, warum es bis heute nicht verstummt ist.

Das Weihnachtsereignis wird hier in einen bestimmten Zusammenhang gestellt: "Stille Nacht". Das ist zugleich Feststellung und Forderung, Ruf und Aufruf. Es ist gleichzeitig die Voraussetzung und die Folge der Weihnacht. In der Stille der Nacht geschieht Weihnachten und lässt diese Nacht wiederum still werden. Sie ist still, weil sie heilig ist, und ihre Heiligkeit wird erfahrbar, weil sie still ist.

Für mich ist das noch immer eine der faszinierendsten Weihnachtserfahrungen. So oft habe ich schon am Heiligen Abend Besuche im Krankenhaus gemacht. Immer wieder dasselbe: Dort, wo sonst Schwestern und Pfleger und Ärzte über die Stationen eilen, wo sie sich mühen, ihre Patienten zu versorgen und oft zu wenig Zeit haben, wo sonst so viel Geschäftigkeit und Hektik herrscht, dort ist es merkwürdig still. Auf manchen Stationen sind Kerzen angezündet, und die Gänge und Zimmer sind eingetaucht in Stille. Und diese Stille gibt ganz unsentimental Raum für die Wirklichkeit, wie sie wirklich ist, für Freude und Hoffnung, für Trauer und Angst. Auch draußen, auf den Straßen, ebbt mehr und mehr der Verkehr ab, und Busse und Bahnen werden leerer. Das ist der sinnfälligste Ausdruck dafür, dass unser Dienstleistungs- und Produktionsbetrieb unterbrochen ist, dass der Alltag ausgesetzt hat. "Die tägliche Normalzerstörung", wie die evangelische Theologin Dorothee Sölle es einmal genannt hat, ist außer Kraft gesetzt. Sogar manche Gewalthaber scheinen sich von Weihnachten berühren zu lassen und legen eine Waffenruhe ein. Die Stille der Weihnacht macht für wenige Stunden alles "ganz anders", und diese Stille erscheint heilig.

Solange es solche Stille gibt, bleibt der Zugang zum Geheimnis der Weihnacht möglich. Aber wie lange noch? Längst strahlen private Fernsehsender zu Weihnachten angebliche "Alternativangebote" aus; Gastronomie- und Amüsierbetriebe laden zu schrillen "Christmas-Partys" ein. Lärm ist zu einem der größten Umweltverschmutzer geworden. In einem Interview hörte ich Friedrich Schorlemmer, den Pfarrer und Bürgerrechtler aus Ostdeutschland, sagen: "Ich kenne keinen Ort mehr in Deutschland, wo es wirklich still ist. Irgendwo hört man immer noch in der Ferne ein Auto oder ein Flugzeug." Wahrscheinlich schaden wir uns mit der Verbannung der Stille mehr, als uns klar ist. Auch das gehört mit zu unserer Wirklichkeit. Doch wir selbst können so leben und handeln, dass der Wunsch nach Stille wach bleibt. Die Stille selbst ist noch nicht das Rettende. Aber ohne die Stille können wir das Rettende für uns selbst und für unsere Gesellschaft nicht empfangen.

Die Stille ist wie eine Brücke zwischen uns und dem Weihnachtsereignis in Bethlehem. Nicht wenige gehen an Weihnachten in einen Gottesdienst mit dem Bedürfnis nach Ruhe, mit dem Wunsch, innerlich still zu werden. Geben wir diesem Verlangen nach! Und in dieser Stille darf alles da sein: die Feier, die wir zu Hause begehen, selbst wenn sie nicht so harmonisch verläuft, wie erhofft; die Freude, die wir selber durch unsere Geschenke auslösen; auch die Angst darf dann da sein, die Angst um die Arbeit oder um die Gesundheit oder um den gefährdeten Frieden; die Trauer darf da sein, dass ein Angehöriger dieses Jahr zum ersten Mal nicht mehr mit dabei ist. Die Stille lässt Raum für die Wirklichkeit, so wie sie ist.

Diese Stille ist wie eine Brücke zu jenem Kind, das in einer Krippe liegt. Es ist still; es schläft. Es sagt nichts, und auch wir brauchen nichts zu sagen. Wir brauchen uns nur dieser Stille zu überlassen. Und in dieser Stille kann ein Wort aufsteigen. "Kann", denn auch die Stille kann das nicht machen. Aber sie kann die Brücke sein, auf der mir das Wort entgegenkommt, das schon die Hirten auf den Feldern von Bethlehem gehört haben: "Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren." In diesem Kind, das aus der Stille Gottes kommt, begegnet mir das Rettende meines Lebens. Um Mensch zu sein, bin ich der Stille bedürftig, die von Gott erfüllt ist.

In der Nacht zum 17. Juni 1967 gab die amerikanische Schauspielerin und Sängerin Barbra Streisand eines ihrer ganz wenigen Konzerte unter freiem Himmel. Mehr als 130.000 Menschen waren im Central Park von New York zusammengekommen. Gegen Ende der Vorstellung stimmte die engagierte Jüdin ein christliches Weihnachtslied an - inmitten einer warmen Sommernacht: "Silent night, holy night..." Die Menschen verstanden, verstummten. Auf der mitgeschnittenen Aufnahme wird es völlig still. Zum Schluß: Jubel. Solange die Sehnsucht nach der Stille in uns noch lebendig ist, bleibt es möglich, dass wir in der Tiefe unserer Wirklichkeit das Geheimnis der Heiligen Nacht entdecken, von dem dieses Weihnachtslied singt: „Christ, der Retter ist da."

Weihbischof Dr. Nikolaus Schwerdtfeger