Weihbischof Hans-Georg Koitz

Weihnachtsgruß 2004 an die Leser der Zeitungen

"Und jetzt noch eine ganz schwierige Frage," sagte die Religionslehrerin in der Grundschule. "Was meint ihr, Kinder: Gott ist doch im Himmel, aber gleichzeitig soll er auch auf der Erde mitten unter uns sein. Wie kann man sich das wohl vorstellen?"

Nach einiger Zeit meldete sich Sarah, die kleine Tochter eines Arztes, und erklärte selbstsicher: "Das ist doch ganz einfach! Seine Wohnung hat der liebe Gott im Himmel, aber seine Praxis hat er hier auf der Erde."

Schöner kann man es nicht ausdrücken. Ein ganzes Heer von Theologen hätte das nicht anschaulicher beschreiben können. Mit zwei Sätzen hat dieses Kind das Geheimnis der Weihnacht auf den Punkt gebracht. "Das ist doch ganz einfach! Seine Wohnung hat der liebe Gott im Himmel, aber seine Praxis hat er hier auf der Erde."

Gott hat eine Praxis eingerichtet. So wie ein Arzt hat er ein Sprechzimmer, einen Behandlungsraum. Und Weihnachten zeigt ganz deutlich, wo wir diesen Raum finden können. Denn dadurch, dass er selbst in Jesus Christus Mensch geworden ist und unter uns gewohnt hat, wird klar, wo Gott am Werk ist. Seine Praxis hat er auf der Erde. Hier können wir seine Behandlung, sein Handeln spüren.

Auch wenn viele behaupten: Gott ist tot, er ist nirgendwo mehr zu entdecken. Auch wenn deshalb noch so viele ihr Heil anderswo suchen – in reiner Wissenschaftsgläubigkeit auf der einen oder in einem neuen Aberglauben auf der anderen Seite. Auch wenn viele sich von Gott abwenden: Bei all den Gräueltaten, die uns tagtäglich auf der Welt begegnen, bei all dem Hass, all dem Unfrieden, all den Katastrophen und Unglücksfällen kann man doch nicht mehr an einen guten Gott glauben. – Die Aussage glaubender Christen über das, was sie mit Weih-nachten meinen, gilt dennoch weiterhin: Gottes Wirken, sein Be-Handeln hier auf der Erde, kann man entdecken!

Man kann es, wird dazu aber nicht genötigt. Man braucht für dieses Entdecken eine besondere Fähigkeit: Nicht nur die Steine des Lebens sehen zu wollen, sondern auch die Blumen am Weg. Zu diesen Blumen zählt für mich das Heranwachsen eines Kindes. Da ist mehr als eine Folge von Zellteilung. Das ist Leben! Und Leben ist mehr als Wissenschaft je wird erklären können. – Dazu zählt für mich jede Lebensphase, die mich reifer und weiser werden lässt, die beglückende ebenso wie die bedrängende. Wie viele Kleinigkeiten müssen da zusammen kommen, die niemand im einzelnen steuern kann, die das Leben aber entscheidend prägen.

Gottes Praxis hier auf der Erde!

Das Fest der Geburt Jesu hat keinen hellen Namen: Heiliger Abend, Weih-Nacht sagen wir. Ein Nacht-Fest also! Nacht – das ist Schlaf und Traum und die undurchsichtige Seite des eigenen Inneren. Nacht – das ist die Dunkelheit gegenwärtiger gesellschaftlicher und kirchlicher Krisen, ist Handlungs-Unsicherheit und Orientierungslosigkeit. Da scheint es keinen Weg zu geben aus der Nacht der Arbeitslosigkeit und des fehlenden Geldes, aus Terror und Krieg. Überall diese Nacht. Auf unserem Lebensweg kommen wir an Nacht nicht vorbei.

Das Kind in der Krippe, das später als Mann am Kreuz hingerichtet wird, hat das nie verheimlicht. Seine Biographie macht deutlich, wie Gottes Wirken und seine Praxis uns erreichen will. Weih-Nacht ist Bekenntnis, dass Gott all diese Nächte nicht scheut. An Jesus von Nazareth will Gott uns zeigen, dass er gerade dann uns nahe ist, wenn wir ihn nicht erkennen – wenn wir nur noch Steine sehen.

Es gilt tatsächlich: Gott hat seine Praxis hier auf der Erde.

Hildesheim, 09.12.2004
Weihbischof Hans-Georg Koitz