Der Tod hat nicht das letzte Wort – ein österlicher Hoffnungsschimmer fürs Leben

Ein Beitrag zum Experiment "Meine Heilige Schrift"

Die Gottesdienste der Osterfesttage konfrontieren mit einer dramatischen Bewegung: vom Leben zum Tod zum Leben. An einem Psalmvers der Osterliturgie bleibt Dr. Nikolaus Schwerdtfeger, Weihbischof im Bistum Hildesheim, ganz besonders hängen. Es ist ein rätselhaftes Wort, das ihn zum Nachdenken bringt und tief hinein ins Ostergeheimnis und ebenso mitten hinein ins Leben mit seinen Höhen und Tiefen führt. Es nährt für ihn eine große Hoffnung: „dass in den Rätseln meines Lebens das auch zu meinem Osterlied wird“.


Noch immer bin ich bei dir.

Psalm 139,18


Es ist ein Wort, das mir zuerst in der Osterliturgie begegnet ist, und gerade dadurch ist es mir nahe gekommen. Die feierliche Ostermesse mit ihrem alten gregorianischen Gesang beginnt so:

„Resurrexi et adhuc tecum sum.“ Aufs Erste ein rätselhafter Satz. Nicht die lateinische Sprache macht ihn mir zum Rätsel. Auch übersetzt, bleibt er mir dunkel: „Ich bin erstanden und bin noch immer bei dir.“ Wer spricht so? Wer wird so angesprochen? Und in welchem Zusammenhang wird das gesagt?
Dieser Satz hat bereits einen langen Weg zurückgelegt, bis er in die österliche Liturgie Eingang gefunden hat. Er stammt nicht aus einem Osterevangelium. Er ist einem der vertrautesten Psalmen entnommen, dem Psalm 139, den ich selbst immer wieder gebetet habe und bete. Doch auch darin braucht es achtzehn Verse, bis er endlich ausgesprochen wird.

In diesem Psalm steht der Mensch vor Gott und sagt: „Herr, du hast mich erforscht und du kennst mich. […] Du bist vertraut mit all meinen Wegen. […] Du legst deine Hand auf mich.“ (Psalm 139,1.3.5) Lange habe ich diese Worte als tröstliche Zusage verstanden: Gott – vertraut mit all meinen Wegen. Doch – wenn ein anderer unerwartet seine Hand auf mich legt, bleibt zumindest im ersten Moment offen: Ist das ein gutes oder ein bedrohliches Zeichen? Und wer will schon ausgeforscht sein? Auch von Gott durch und durch erkannt zu werden und unaufhörlich von ihm begleitet zu sein, klingt ambivalent. So einfach und eindeutig ist der Anfang dieses Psalms also nicht.

„Gott ist nicht nett“, heißt der Titel eines Buches, das ich vor einiger Zeit gelesen habe. Da erzählt ein Priester von seinen Erfahrungen mit Gott. Er mag nicht mehr an einen in Predigten weichgespülten Gott glauben. Er will und muss reden von den Leiden und Einsamkeiten, die er selbst erfahren hat, von Schuld und unerfüllten Wünschen – trotz dieses Gottes und vor diesem Gott. Was taugt denn ein Glaube, in dem solche Erfahrungen keinen Platz haben? Und auch in dem scheinbar so tröstlich beginnenden Psalm versucht der Mensch sich doch gerade von diesem rätselhaften Gott zu distanzieren – und muss dabei entdecken, dass es keinen Gott-freien Raum gibt: Ob er in höchste Höhen oder in tiefste Tiefen flieht, ob ans Ende der Erde oder ins dunkelste Dunkel: Es gibt kein Entrinnen vor diesem Gott. Ganz gleich an welchem Ort: „Auch dort wird deine Hand mich ergreifen.“ (Psalm 139,10)

Menschen können fromm sein oder gewissenlos, sie können sich anpassen oder protestieren – es ist irgendwie immer gleich: Eines Tages ereilt sie das Schicksal. Da entgleitet ihnen, was sie sich aufgebaut haben. Da werden sie mit einem Mal austauschbar, nicht nur in ihrem Beruf, sondern bis in ihre persönlichsten Beziehungen hinein. Da trifft sie die Diagnose eines Arztes wie ein Hieb. Da können sie sich nicht einmal mehr einem Vertrauten verständlich machen. Es gibt kein Entrinnen.

Doch muss man diesem Gott überhaupt entrinnen? Könnte es sein, dass Gott dem Menschen so nahe ist, weil der Mensch noch in jeder Situation Gott so wichtig und kostbar ist? Und dass dieser Gott seinen Menschen von Anfang an gewollt und sogar das Webmuster seines Lebens entworfen hat? In den alten Psalm jedenfalls kommt, je länger ich ihn bete, ein anderer Klang hinein: Ein Staunen kann ich da vernehmen und sogar den Dank, „dass du mich so wunderbar gestaltet hast.“ (Psalm 139,14) Und dann kommt schließlich der Satz, der in der künftigen, revidierten Einheitsübersetzung so formuliert ist: „Ich erwache und noch immer bin ich bei dir.“ (Psalm 139,18)

Die Osterliturgie legt diese Worte Jesus Christus in den Mund. Er ist der Mensch, der bis ans Kreuz erhöht wurde und zugleich hinabgestiegen ist bis in die tiefsten Tiefen. Wie kein anderer hat er erfahren: Gott ist nicht nett. Am Kreuz schreit er es heraus: „Warum hast du mich verlassen?“ (Markusevangelium 15,34) Drei Tage lang liegt er erschlagen in der Unterwelt. Der Ostermorgen aber weiß: Es ist nicht sein letztes Wort geblieben. Wie kein anderer entdeckt dieser Eine: Gott weicht nicht von mir, nicht einmal im Abgrund des Todes. Noch durch die Finsternis hindurch erfährt er die nie entschwundene Treue Gottes und sagt, wie aus einem endlosen Koma erwachend, zu seinem Vater das österliche Wort: „Ich bin noch immer bei dir.“ (Psalm 139,18)

Anfangs hat mich irritiert, dass die Liturgie den Sohn so sprechen lässt. Müsste nicht der Vater mit solchen Worten seinen Sohn aus dem Tod aufwecken? Ja, Gott hat in der Tat zuvor schon so gesprochen. „Ich bin da“, sagt Gott, „das ist mein Name für immer“ (Exodus 3,14–15). Ostern aber beginnt, wo der Angesprochene die Augen aufschlägt und wie verwundert darauf antwortet: Und ich – „noch immer bin ich bei dir.“ (Psalm 139,18)

Gott ist nicht nett, klagt der Mensch und erfährt Schicksalsschläge, denen er nicht ausweichen kann. Wahrhaftig, Gott ist oft genug so, dass es zum Weinen ist – wie es auch jene Frau aus Magdala tat, bis sie die Stimme hört: Ich bin doch da – „Maria“. Und sie sich umdreht: „Rabbuni“ – „noch immer bin ich bei dir“ (Johannesevangelium 20,16).

Ich hoffe, dass in den Rätseln meines Lebens das auch zu meinem Osterlied wird: „Noch immer bin ich bei dir.“ (Psalm 139,18)

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Name: Dr. Nikolaus Schwerdtfeger, Weihbischof im Bistum Hildesheim
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