Tierschutz trifft Genesis und Johnny Cash

#diegruenegemeinde in der Eilenriede in Hannover

Immer freitags, immer in der Eilenriede: die #gruenegemeinde lädt zu einer spirituellen Auszeit im Stadtwald von Hannover ein – eine Kirche im Freien.

Gebet, Gesang, Dank, Fürbitte, Schriftauslegung – alles Bestandteile eines Gottesdienstes. Alles „Im Namen, des Vaters, und des Sohnes und des Heiligen Geistes“: Das wird schon erwartet, wenn „man zur Kirche geht“. Nur hat diese Kirche keine Glocken. Dafür eine Kuckuckspfeife. Denn diese Kirche ist im Freien und die Gemeinde ist grün. Jeden Freitag, bei Wind und Wetter, immer um 16:30 Uhr, aber an unterschiedlichen Orten in der Eilenriede, dem Stadtwald von Hannover

#diegruenegemeinde ist ein Angebot für eine spirituelle Auszeit in der Natur: eine Stunde Pilgern durch den Stadtwald Hannovers. Die Idee: Das Erleben der Schöpfung mit dem Engagement für die Umwelt zu verbinden. „Unterwegs sein, ein kleines Stück zu pilgern hat etwas mit innehalten zu tun, mit in Beziehung treten zu mir selbst, zu meinem Nächsten, zur Natur und zu Gott“, erläutert Dr. Inga Kalinowski, die im Auftrag des Bistums Hildesheim das Projekt #diegruenegemeinde betreut und die wöchentlichen Pilgergänge gestaltet: „Dadurch können wir wieder Kraft gewinnen und spirituell auftanken.“ Durch die zentralen Treffpunkte und die Termine am Nachmittag lassen sich die Treffen gut in den Alltag integrieren, ergänzt die 42-Jährige.

Und es ist ein Gottesdienst. Nur anders. So auch an diesem Freitag. Der Treffpunkt ist markant. Schräg gegenüber vom Zoo, an einer Stelle, die zum Leitgedanken der Auszeit passt: „Das Tier in mir.“ Gleich neben dem Wisent, eine Skulptur, die Wisent 1935 von Ernst Waterbeck in Bronze gegossen wurde. Übrigens schon zu einer Zeit, als das letzte frei lebende Tier abgeschossen wurde. Die heute wenigen freien Herden in Osteuropa und seit 2013 in Westfalen stammen von Zootieren ab und wurden ausgewildert.

Vom Wisent zum Rasenlabyrinth

An diesem Umgang des Menschen mit dem Wisent erinnert Kalinowski bei der ersten Station, dem „Rad in der Eilenriede“, einem großen Rasenlabyrinth. Zuvor hatte sich die heute 20 Teilnehmenden in Zweier-Gruppen zusammengefunden. Bedingung dabei: die Personen sollten sich nicht kennen. Kalinowski nennt das „Check-In“. So kommen die Pilgernden ins Gespräch. Über Alltägliches, über Tiefgründiges, vielleicht auch über auf den ersten Blick Banales. Arbeit, Freizeit, Interessen, Familie – über alles wird geredet. Themen des Lebens, wie auch das, woran geglaubt wird. Es gilt übrigens das „Pilger*innen-Du“. Das lockert Barrieren.

Doch jetzt das Rasenlabyrinth. Durch Windungen führt der Weg zum Ziel in der Mitte – zu einer großen Linde. Es gilt als eines der letzten vier historischen Rasenlabyrinthe Deutschlands. Erstmals im 18. Jahrhundert schriftlich erwähnt, 1932 dann an den jetzigen Standort verlegt. Rasenlabyrinthe gelten als Kultstätten. Altgermanisch inspiriert oder auch christlich, als verstanden als verschlungener Pilgerweg, der nach Jerusalem führt.

Jetzt wird hier gesungen: „Lobet den Herrn“. Dann gebetet – und die Schrift ausgelegt. Wobei Kalinowski in einem kurzen Impuls gleich drei Schriften miteinander verbindet. Zum einen die „Cambridge Declaration on Consciousness“, eine 2012 von führenden Neurowissenschaftler*innen unterzeichnet Erklärung, die Tieren ein Bewusstsein zuschreibt. Zum anderen „Der Panther“, ein Gedicht von Rainer Maria Rilke aus dem Jahr 1902. Der Lyriker beschreibt darin die Empfindungen einer hinter Gitterstäben gefangenen Raubkatze, zur Schau gestellt in der Menagerie im Pariser Jardin des Plantes. Und schließlich den Psalm 124, in dem es heißt: „Unsre Seele ist wie ein Vogel dem Netz des Jägers entkommen; das Netz ist zerrissen und wir sind frei.“ Was alle Texte eint: „Das Tier in mir“.

Fuchs, Eichhörnchen, Vögel – und die Kuckuckspfeife

Genau darüber sollen sich die Pilgernden nun Gedanken machen. Still und in Bewegung, nachdenken und herumgehen: „Versetzt euch in ein Tier, das hier im Wald lebt, versucht durch dessen Augen zu sehen.“ Empathie trifft Kontemplation, Einfühlung trifft Sinnieren. Dann ertönt die Kuckuckspfeife: Zeit für einen Austausch. Dachs, Fuchs, Eichhörnchen, Vögel – davon wird im Abschluss schlaglichtartig berichtet. Und gleich viermal von Mäusen. Grundsätzlich gilt: Wer erzählen mag, erzählt. Kein Zwang.

Der Weg zur zweiten und letzten Station wird schweigend gegangen. Nachdenken über das Gehörte, das Gesehene, die eigenen Vorstellungen. Stille in sich ausbreitender Dunkelheit, auch das Vogelgezwitscher wird weniger. Auf der kleinen Lichtung nahe dem Ausgangspunkt verbindet Inga Kalinowski erneut scheinbar Gegensätzliches: Tierschutz trifft Genesis und Johnny Cash. Kalinowski erzählt von flirtenden Elefanten und mitfühlenden Affen und stellt damit einen der am häufigsten missverstandenen Bibelverse bloß: „Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen.“ (Genesis, 1,28).

Für Kalinowski hat der Mensch nicht den Schöpfungsauftrag nicht erhalten, weil er besser ist als alle anderen Kreaturen. Gott habe die Menschen ausgewählt, nicht um zu herrschen, sondern auf einfühlsame Weise Verantwortung auszuüben. Sie fasst das in übersetzte Zeilen aus einem Lied on Johnny Cash zusammen, einem Lied, das auch den Leitgedanken dieses Pilgergangs prägt: „The Beast in Me“, „das Tier in mir“. In freier Übersetzung geht es um das Gefühl eingesperrt zu sein, um Ruhelosigkeit, um Schmerzen, um die Suche mach Schutz – manchmal auch vor sich selbst. Der Refrain: „Gott, hilf dem Tier in mir“.

Abschalten, nachdenken, dankbar sein

Margarete haben die Impulse gutgetan. Sie sei katholisch, gehe aber nicht regelmäßig zur Kirche, erzählt die 65-Jährige: „Das hilft mir nicht so.“ Bei der Kirche im Freien sei das anders: „Hier ist Raum zum Nachdenken, Luft, um Gedanken nachzuhängen.“ Etwas, was sie sonst sehr vermisst. Hinzu komme das Unterwegs-Sein: „Pilgern wollte ich schon immer, das ist so ein kleiner Anfang davon.“ Diese Mischung für Kopf, Herz und Füße sei das Richtige für sie: „Ich hatte heute Morgen einen schweren Gang“, berichtet Margarethe. Unter Umstände hätte sie operiert werden müssen. Doch das habe sich in Wohlgefallen aufgelöst: „Das hat mich dann heute noch mal dankbarer gemacht für die Anregungen und die Herzlichkeit in der Gruppe.“

„Ich finde es gut, dass die Kirche mit einem solchen Angebot wieder auf die Menschen zugeht“, meint Holger. Es passe wirklich in die Zeit, ist sich der 57-Jährige sicher. Mit anderen austauschen, ins Gespräch kommen, Ansichten austauschen, auch schweigen: „Schöne Sache, gerade jetzt, wo es immer so hektisch ist, die Leute so gestresst sind und keine Gelegenheit haben, mal an sich zu denken.“ Auszeiten für die Seele seien wichtig. Unterwegs sein ist die passende Möglichkeit.

Abschalten, eine Sache tun, die nichts mit Beruf und alltäglichen Verpflichtungen zu tun hat – das ist auch Meike wichtig. Die 27-Jährige ist das erste Mal dabei und gleich nach Dienstschluss zum Startpunkt gefahren: „Hier konnte ich von der ersten Minute an runterkommen.“ Das hat auch ihre Gedanken offen gemacht: „Die Impulse waren spannend, sich in ein Tier hineinzudenken eine tolle Erfahrung.“ Ablauf und Struktur bei der Kirche im Freien habe ihr da geholfen.

Vivien, ebenfalls 27 Jahre alt, war schon öfter da: „Ich mag es, neue Menschen kennenzulernen.“ Auch dafür öffnet die #diegruenegemeinde Möglichkeiten. „Heute habe ich ein wirklich tiefgründiges Gespräch während der Kennenlernphase geführt“, berichtet Vivien. Das habe mit der Art und Weise dieser Kirche im Freien zu tun: „Es hat was Inspirierendes.“ Nicht nur für Gespräche untereinander, sondern auch für das Nachdenken während der Schweigephase. Manchmal ertappe sie sich dabei, mit den Gedanken doch woanders zu sein. Hier und heute aber nicht: „Das Tier in mir – da habe ich wirklich intensiv drüber nachgedacht.“ Kurz: „Das tut mir gut.“

  • #diegruenegemeinde lädt jeden Freitag zur Kirche im Freien in die Eilenriede ein. Der Zeitpunkt ist mit 16:30 Uhr jeweils der gleiche, der Startpunkt ändert sich von Woche zu Woche. Am 18. Februar, ist es die Ampelquerung Oskar-Winter-Straße / Hohenzollernstraße (nahe Lister Platz / Markuskirche).
  • Anmeldung direkt bei Inga Kalinowski unter Telefon: 0151 65682977 oder per E-Mail: inga.kalinowski(ät)bistum-hildesheim.de. Weitere Informationen: www.gruenegemeinde.de
  • Das Projekt wird vom Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken gefördert.

Rüdiger Wala